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  • Heute beginnt im südschwedischen Malmö das vierte Europäische Sozialforum

»Wir wollen Allianzen schmieden«

Nicht nur Kritik, sondern auch konkrete politische Vorschläge soll es auf dem ESF geben

  • Lesedauer: 5 Min.
Vom heutigen Mittwoch bis Sonntag findet im schwedischen Malmö das 5. Europäische Sozialforum (ESF) statt. Die Veranstalter beschreiben das ESF als den »weitaus größten Treffpunkt für soziale Bewegungen und eine fortschrittliche Zivilgesellschaft in Europa«, in den letzten Jahren ist das Interesse an Sozialforen jedoch zurückgegangen. Es ist unsicher, ob das Ziel, 20 000 Teilnehmer in Malmö zu versammeln, erreicht wird. ANNA HELLSTRÖM, eine der Pressesprecherinnen des diesjährigen Forums, findet es wichtig, den Aufbau dauerhafter Netzwerke zwischen Aktivisten und Gewerkschaftern in den verschiedenen europäischen Ländern voranzubringen. Wenn sie nicht für das Forum arbeitet, ist Hellström als Referentin bei der schwedischen Transportgewerkschaft »Svenska Transportarbetareförbundet« tätig.

ND: Frau Hellström, wie wird das Sozialforum ablaufen?
Am heutigen Abend wird es offiziell eröffnet. Von Donnerstag bis Sonntag finden dann über 250 Seminare und Workshops statt. Am Samstag veranstalten wir in Malmö eine große Demonstration, die mit einer Party ausklingt. Während der fünf Tage wird es auch Bücherstände, Ausstellungen und rund 400 unterschiedliche kulturelle Aktivitäten geben. Das Europäische Sozialforum ist damit eines der größten Kulturereignisse in Malmö seit langem.

Das Ziel der Veranstalter ist, dass bis zu 20 000 Teilnehmer nach Malmö kommen. Wie lief die Mobilisierung in Schweden in der Zeit vor dem Forum?
Zunächst hatten wir einige Schwierigkeiten. Anderswo in Europa sind die Sozialforen heute ziemlich bekannt und etabliert, aber hier in Schweden sind das immer noch neue und recht unbekannte Ereignisse. Die großen Medien haben bislang wenig darüber berichtet. Auf lokaler Ebene in Malmö gab es aber schon sehr viel Aufmerksamkeit, und linke Zeitungen haben auch über das ESF geschrieben. Was die Teilnahme anbelangt, ist es in den letzten Wochen etwas »heißer« geworden, neue Anmeldungen sind eingetrudelt. Die meisten Teilnehmer werden voraussichtlich aus Schweden kommen, aber auch aus den direkten Nachbarländern erwarten wir viel Zulauf.

Welche Themen sind aus Sicht der schwedischen Teilnehmer besonders wichtig?
Vor allem die Zukunft des Wohlfahrtsstaats, Angriffe auf soziale Sicherungssysteme und das Arbeitsrecht sind sehr wichtige Themen. Viel Aufmerksamkeit gibt es aber auch für die Frage, wer eigentlich Anspruch auf gemeinsame Ressourcen wie Wasser, Wärme und Boden hat. In Schweden gibt es ja viele Diskussionen um den Verkauf und die Privatisierung staatlicher, also öffentlicher Unternehmen. Außerdem glaube ich, dass der Klimaschutz auf dem ESF eine große Rolle spielen wird und nicht zuletzt werden auch die Migration, die Rechte »papierloser« Einwanderer und der Rassismus Themen sein.

Werden diese Fragen auch von Teilnehmern aus anderen Ländern als Schwerpunkte betrachtet?
Ja, das denke ich. Das Forum verfügt über einen Solidaritätsfonds, der es Teilnehmern aus Osteuropa, etwa Russland, der Ukraine, Rumänien oder aus den Balkanländern ermöglicht, nach Malmö zu kommen. Somit erwarten wir viele interessante Begegnungen. Das Thema Arbeitsrecht wird zum Beispiel überall heiß diskutiert. Arbeitnehmer aus den östlichen Ländern werden im Westen ausgebeutet – das betrifft uns alle. Die Beziehungen zwischen Ost und West werden auch generell eine große Rolle bei den Debatten spielen.

Welche Impulse und Ergebnisse erhoffen Sie sich persönlich von den Begegnungen?
Wir wollen uns darauf konzentrieren, mit Organisationen aus Ländern im östlichen Europa eine dauerhaftere Zusammenarbeit aufzubauen. Viel wird über unterschiedliche »Organisationskulturen« und gemeinsame Strategien in den europäischen Ländern geredet werden. Mir ist es wichtig, dass sich Gewerkschaften und soziale Bewegungen besser gegenseitig kennen lernen und Allianzen schmieden. Man muss ja nicht zu allem die gleiche Meinung vertreten, aber es geht darum, wenigstens einen gemeinsamen Nenner zu finden. Es kommt uns auch darauf an, dass wir ergebnisorientiert arbeiten und nicht nur »gegen« diese oder jene Entwicklung sind, sondern auch konkret »für« etwas.

Im nächsten Jahr wird Schweden für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Wird das in Malmö auch schon eine Rolle spielen?
Europa ist viel mehr als nur die Europäische Union, wir wollen auch über die EU hinaus nach Osten und Süden schauen. Der Konflikt in der Westsahara oder was in China passiert, interessiert viele Menschen. Aber die EU ist natürlich schon sehr wichtig. Angriffe aus Brüssel auf die Rechte von Arbeitnehmern werden thematisiert und die Klimafrage beschäftigt sehr viele Menschen. Soziale Bewegungen und Umweltgruppen hier in Schweden werden den Klimaschutz auf dem Malmöer ESF diskutieren und wollen dieses Thema auch während der EU-Ratspräsidentschaft »warm« halten. Schließlich wird im nächstes Jahr das Europaparlament neu bestimmt und 2010 sind wieder nationale Wahlen in Schweden.

Fragen: Bernd Parusel


Das Stichwort

Das Europäische Sozialforum ist nach eigener Definition ein offener Raum der Begegnung und der demokratischen Debatte von Ideen. Ein Raum für die Formulierung von Vorschlägen, für den freien Austausch von Erfahrungen und für den Aufruf zu wirksamen Aktionen. Dieser Raum wird von Gruppen, Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft geschaffen, die sich dem Neoliberalismus und der kapitalistischen Herrschaft über die Welt und jeder möglichen Form von Imperialismus widersetzen und sich für den Aufbau einer globalen Gemeinschaft engagieren, die sich auf fruchtbare Beziehungen zwischen den Menschen und des Menschen mit der Erde gründet.

Chronik - Von Florenz bis Malmö

Erstes Europäisches Sozialforum: Florenz 2002
Im November 2002 nehmen fast 50 000 Menschen am ersten europäischen Sozialforum (ESF) teil. Themenschwerpunkte sind Globalisierung und Liberalismus, Krieg und Frieden sowie Bürgerrechte, Menschenrechte und Demokratie. Das erste ESF steht unter dem Eindruck des Irak-Krieges, fast eine Million Menschen nehmen an der Abschlußkundgebung teil.

Paris 2003
Eine erweiterte Themenbasis in der Debatte, mehr als 240 Seminare und Workshops und unzählige spontane Aktionen prägen das Bild des zweiten ESF. Mehr als 50 000 Menschen besuchen die Veranstaltungen, das Planen einer »anderen Welt« steht im Mittelpunkt. An der Abschlussdemonstration beteiligen sich 200 000 Menschen.

London 2004
Auf dem ESF in London kommt es offen zum Bruch zwischen Vertretern im Sozialforum, die dieses allein als Raum der politischen Debatte verstanden wissen wollen, und jenen, die die Sozialforen als Ausgangspunkt für politische Aktionen sehen. Darüber hinaus wird die Struktur so verändert, dass weniger Konferenzen und mehr Seminare und Workshops stattfinden können. 15 000 »Delegierte« und Besucher beteiligen sich, fast 100 000 Menschen demonstrieren zum Abschluss.

Athen 2006
Die Diskussion um die Zukunft der globalisierungskritischen Bewegung hält an. In Athen manifestiert sich das Fehlen der Einheit der Bewegung – einzelne Gruppen koppeln sich ab und organisieren parallel zum ESF eigene Veranstaltungen, arbeiten mit dem ESF aber meist zusammen. An der Konferenz nehmen ca. 15 000 Menschen teil. Der alltägliche Widerstand gegen den Neoliberalismus bestimmt die Debatte. (wid)

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