Ex tunc – und nicht ex nunc!

München 1938 – ein völkerrechtswidriges Diktat und dessen Folgen

  • Gregor Schirmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Vom Münchener Abkommen zwischen Hitler, Chamberlain, Daladier und Mussolini vom 29. September 1938 und dem Überfall auf Polen lag gerade noch ein knappes Jahr. Die Logik faschistischer Aggressivität nach außen war spätestens mit München für jeden, der sehen wollte, in Bewegung gesetzt. Der Tiefpunkt der selbstmörderischen Beschwichtigungspolitik Großbritanniens zuförderst und dann auch Frankreichs gegenüber Hitler war erreicht. Die tschechoslowakische Regierung unter Benesch hat unter dem Zwang der Kriegsdrohung klein beigegeben. Ein Beistandsangebot der Sowjet-union hat sie nicht ausgelotet.

Was ist in München passiert? Die Auslieferung des tschechischen »Sudetengebiets« an das »Deutsche Reich« wurde besiegelt. England und Frankreich waren sich schon vor München mit Hitler-deutschland darüber einig, dass das Sudetengebiet »heim ins Reich« kommen musste. Die Tschechoslowakei wurde nicht gefragt, sondern durch Ultimaten unter Druck gesetzt. In München wurden die »Modalitäten« geregelt: »Räumung« des Gebiets und Besetzung durch die »Wehrmacht« bis zum 10. Oktober. Die CSR verlor 29 000 Quadratkilometer Territorium und vier Millionen Einwohner. Für Hitler war das ein Zwischenaufenthalt auf seinem längst beschlossenen Vernichtungsmarsch.

Am 14. März 1939 erklärte der Faschistenknecht und katholische Priester Tiso auf Befehl Hitlers die Slowakei für »unabhängig«. Am 15. März besetzte die deutsche Wehrmacht die »Rest-Tschechei«. Einen Tag später wurde das deutsche »Protektorat Böhmen und Mähren« unter einem von Hitler berufenen »Reichsprotektor« gegründet. Ein souveräner Staat, Mitglied des Völkerbunds, war damit faktisch liquidiert. De jure bestand dieser Staat in seinen Grenzen aus der Zeit seiner Gründung 1919 jedoch weiter; die Exilregierung unter Benesch in London vertrat ihn. In der Tschechoslowakei waren die Menschen einem grausamen Terrorregime der Nazis ausgesetzt. Der Widerstand dagegen war aller Ehren wert.

Das Abkommen war ein völkerrechtswidriges Diktat gegen die Tschechoslowakei. Es verstieß gegen die schon damals geltenden Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts, wonach ein Vertrag zulasten Dritter, hier zulasten der CSR, unzulässig ist und mit Gewaltandrohung erzwungene Gebietsveränderungen völkerrechtswidrig sind. Das Diktat verletzte verbindliche völkerrechtliche Verträge wie die Satzung des Völkerbunds, den Versailler Vertrag und den deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag von 1926. Das Abkommen war ein derart eklatanter und schwerwiegender Bruch geltenden Völkerrechts, dass es als von Anfang an nichtig betrachtet werden muss.

Doch gerade darum geht bis heute ein Streit nicht nur unter Juristen. Die Haltung des Ostblocks war klar. Die DDR und CSSR haben in Art. 7 ihres Freundschaftsvertrags vom März 1967 unzweideutig erklärt, dass das Abkommen »unter Drohung eines Aggressionskrieges sowie der Anwendung von Gewalt zustandegekommen ist, dass es Bestandteil der verbrecherischen Verschwörung des nazistischen Deutschlands gegen den Frieden und eine grobe Verletzung der bereits damals geltenden elementaren Regeln des Völkerrechts darstellte und dass deshalb dieses Abkommen von Anfang an ungültig war, mit allen daraus sich ergebenden Folgen«. Ähnlich lautete Art. 6 des Freundschaftsvertrags zwischen der UdSSR und der CSSR vom Mai 1968. Der Westen mochte sich zu solcher Eindeutigkeit nicht durchringen.

Nach Art. I des Vertrags zwischen der Bundesrepublik und der CSSR von 1973 »betrachten« die Partner das Abkommen »im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe des Vertrags als nichtig«. Dieser reichlich kryptischen Formel, die eine Aussage vermeidet, ab wann das Abkommen und mit welchen Folgen nichtig war, folgt in Art. II der Pferdefuß: Der Vertrag berührt nicht etwaige Rechtspositionen natürlicher und juristischer Personen aus der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 9. Mai 1945; unberührt bleibt die Frage der Staatsangehörigkeit lebender und verstorbener Personen; der Vertrag bildet keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der CSSR und ihrer natürlichen und juristischen Personen.

Der Nach-Wende-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der CSR von 1992 bestätigt die Nichtigkeit des Abkommens und regelt nichts über Zeitpunkt und Wirkung der Nichtigkeit. Bei der Unterzeichnung übergab Genscher seinem Amtskollegen Dienstbier einen Brief, in dem daran erinnert wird, dass während der Verhandlungen beide Seiten übereinstimmend erklärt haben: »Dieser Vertrag befasst sich nicht mit Vermögensfragen.« 1997 wurde in Prag die deutsch-tschechische »Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung« unterzeichnet. Deutschland erklärte sich darin bereit, die Aufnahme Tschechiens in die EU und die NATO zu unterstützen. Dafür war Tschechien bereit, die rechtswidrigen Vorgänge um die Aussiedlung der Sudetendeutschen zu »bedauern«.

Die »offenen Fragen« blieben ungeregelt. Man einigte sich darauf, dass »jede Seite ihrer Rechtsauffassung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat«. Bundeskanzler Kohl sagte nach der Unterzeichnung, dass es »eine Reihe von Fragen gibt, die wir durch diese Erklärung nicht aus der Welt schaffen«; dazu gehört: »Die Vermögensfrage, die bleibt natürlich offen.«

Und das ist des Pudels Kern im Streit um die Frage, ob das Münchener Diktat von Anfang an nichtig war (ex tunc) oder später, vielleicht erst 1945 oder 1973 nichtig wurde (ex nunc). Im ersten Fall sind irgendwelche Ansprüche Sudetendeutscher bar jeder Rechtsgrundlage. Im zweiten Fall kann man die Fiktion aufrechterhalten, dass wegen der Enteignungen von 1945 deutscherseits Rückgaben oder Entschädigungen herauszuholen seien.

70 Jahre nach München wäre Gelegenheit, dass die Bundesrepublik einen einfachen Satz notifiziert: Deutschland und Tschechien sowie deutsche und tschechische natürliche und juristische Personen haben keine Rechtsansprüche gegeneinander und werden solche auch in Zukunft nicht erheben. Es ist zu befürchten, dass die Gelegenheit verpasst wird.

Unser Autor ist Professor für Völkerrecht.

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