• Politik
  • Einen Tag nach dem Debakel in Hessen

Entsetzen in der Hessen-SPD

Ruf nach Konsequenzen und ein schlimmer Verdacht

  • Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden
  • Lesedauer: 3 Min.
Einen Tag nach dem politischen Erdbeben wird im politischen Wiesbaden der Ruf nach Neuwahlen lauter – und in der SPD der Ruf nach Konsequenzen für die vier Fraktionsmitglieder, die die Wahl von Parteichefin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin Hessens torpediert hatten.

Sollte Jürgen Walter, der Drahtzieher des Abweichler-Quartetts ist und ohne den sich die Abgeordneten Silke Tesch und Carmen Everts kaum aus der Deckung gewagt hätten, jemals gehofft haben, dass er nun aus den Trümmern heraus die Partei in eine Große Koalition führen und Innenminister unter CDU-Ministerpräsident Koch werden kann, so muss er sich dies jetzt endgültig abschminken. Denn in ersten Reaktionen zeigten sich selbst prominente Vertreter der hessischen SPD-Rechten entsetzt. Walter und die Seinen ernten jetzt in der Hessen-SPD statt Hosianna-Rufen vernichtende Kritik. Erste Austrittsforderungen kamen etwa vom Darmstädter AfA-Vorsitzenden und DGB-Sekretär Horst Raupp. »Diese nur egoistisch denkenden Menschen sind für mich keine Genossinnen und Genossen mehr«, so Raupp. Während sich Tesch auf ihre Parteibasis im Landkreis Marburg-Biedenkopf berief, empörte sich der Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel über die Abweichler: »Die wissen überhaupt nicht, was Solidarität und Respekt ist.«

Gewissen oder Geld?
Am Dienstag trat die SPD-Bundestagsabgeordnete Helga Lopez eine Diskussion über die Frage los, ob bei den »Gewissensnöten« der Abweichler auch Geld aus der Wirtschaft eine Rolle gespielt haben könnte. In Anspielung auf Judas Ischariot, der seinen Meister Jesus Christus den Besatzungsbehörden zur Hinrichtung ausgeliefert und dafür 30 Silberlinge kassiert hatte, erklärte sie in der »Wetzlarer Neuen Zeitung«: »Vielleicht stimmten die Silberlinge ja.«

Ob Geld geflossen ist oder nicht – auffällig ist, dass die hessische Wirtschaft in den letzten Tagen eindringlich vor den Folgen einer rot-grünen Minderheitsregierung gewarnt hatte. Ihre Sprecher, darunter Unternehmerverbands-Chef Volker Fasbender und der Hanauer Industrielle Jürgen Heraeus, malten den Verlust von mehreren zehntausend Arbeitsplätzen an die Wand. Es dürfte auch Teil einer Kampagne gewesen sein, dass letzten Freitag der Aufsichtsrat der Frankfurter Flughafenbetreibergesellschaft Fraport AG noch einmal den ausgehandelten Koalitionsvertrag kritisiert und vor jeglicher Verzögerung des Flughafenausbaus gewarnt hatte. Dabei haben SPD und Grüne den Ausbau grundsätzlich befürwortet, gleichzeitig jedoch den Beginn der Baumaßnahmen von einer abschließenden Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs über die Klagen gegen den bestehenden Planfeststellungsbeschluss abhängig gemacht. Bis auf den Frankfurter Verkehrsdezernenten Lutz Sikorski (Grüne) hatten offenbar alle anderen Aufsichtsratsmitglieder am Freitag dem Beschluss zugestimmt, darunter auch Gerold Schaub, Vize-Aufsichtsratsvorsitzender und Leiter des Fachbereichs Verkehr bei ver.di Hessen. Dass sich Schaub im Schulterschluss mit dem Fraport-Aufsichtsratsvorsitzenden, Hessens Finanzminister Weimar (CDU) positionierte und die Regionalpresse groß darüber berichtete, war Wasser auf die Mühlen Jürgen Walters. Dieser warnte am Samstag auf dem SPD-Sonderparteitag in Fulda mit dem Totschlagsargument der »Gefährdung von Arbeitsplätzen« vor einem Koalitionsvertrag, den er selbst mit ausgehandelt hatte.

Tischtuch zerschnitten
Was aus der »Viererbande« wird, die zaghafte Ansätze im Koalitionsvertrag zu einem »Politikwechsel« für unbestimmte Zeit verhagelt hat, ist derzeit unsicher. In der SPD-Fraktion scheint das Tischtuch zerschnitten. »Die Wirtschaft wird sich bei Walter und Everts für ihre Dienste dankbar zeigen«, ist sich ein erfahrener Insider sicher: »Die werden denen einen gut dotierten Posten anbieten.« Ob damit auch der gestern Nachmittag eiligst gemeldete Verzicht von Everts auf alle Parteiämter zu tun hat, wird die Zeit zeigen. Auch Dagmar Metzger, die vor ihrer Wahl in den Landtag als Justitiarin der Stadt- und Kreissparkasse Darmstadt ohnehin mehr verdient hatte als zur Zeit, dürfte den Verlust des Mandats verkraften.

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