Gemordete Seelen

Amina Gusners »Medea in den Städten«

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Inszenierung ist wegen einer durchsichtigen Leinwand wie in leichten Nebel gehüllt. Zeitweise dient die Gaze auch der Filmprojektion. Dunkle Wolken ziehen da im Bühnenbild von Johannes Zacher auf, eine Frau geht einsam ohne erkennbares Ziel übers Land, einmal sieht man in ein schlafendes Frauengesicht. Doch in erster Linie ist die Leinwand Abschirmung. Was hinter verschlossenen Türen passiert, das geht niemanden etwas an.

Bei »Medea in den Städten« von der Regisseurin Amina Gusner jedoch sieht der Zuschauer im Theater unterm Dach in Wohnungen hinein auf Einsamkeit in der Zweisamkeit. Männer ermorden Frauenseelen. Das ist nicht strafbar. Das Weib indes merkt längst nicht, was sich da entwickelt und träumt von der Liebe. Da lässt sich gut besingen: »Wenn ich mir was wünschen dürfte, möcht' ich etwas glücklich sein...« In der Tragödie des griechischen Dichters Euripides (431 v. Chr.) ermordete Medea ihre Kinder, um sich an Jason zu rächen. Er hatte sie verlassen und verraten. Der Stoff kam seither immer neu auf die Bühne.

Fast 1000 Berliner Kinder und Jugendliche wurden im vorigen Jahr ihren Familien entzogen, um eine akute Gefahr von ihnen abzuwenden. Kindesmorde in Deutschland finden sich in erschreckender Regelmäßigkeit in den Nachrichten. Im Fernsehen sagte kürzlich ein Sachverständiger über eine Mutter, die ihren Säugling weggeworfen hatte: »Die Frau war wohl überfordert, überlastet. Sie hat gedacht, sie schafft das nicht...« Was aber ist alles passiert, bevor eine Mutter in seelischem Notstand solch eine Tat begeht? Wie viel Angst und Verzweiflung ging dem voraus? Ist sie psychisch krank? Warum vermochte sie nicht das zu geben, was man Mutterliebe nennt? Die ist und bleibt eine der stärksten emotionalen Kräfte in der Natur, auch wenn man heute dabei ist, das in Foren wegdiskutieren zu wollen.

Amina Gusner will in ihrer 90-minütigen szenischen Montage – für die sie selbst Texte schrieb und dokumentarisches Material aus Interviews mit Kindesmörderinnen und Zitate verwendete – nah an die Hintergründe. Das gelingt ihr gut. Sie seziert Umstände und Situationen, betrachtet mögliche Ursachen, wird in ihrer Aussage nicht weinerlich und fällt keine Urteile. Mag der Betrachter aus dem sich auf der Bühne formenden Mosaik des Unvermögens seine Meinung bilden. Der Anforderung enormer schauspielerischer Wandlungsfähigkeit stellen sich Eva Verena Müller und Richard Barenberg. Sie gibt die zart Liebende ebenso überzeugend wie die Wütende oder die Verzweifelte. Er vermag es, Egoismus wie Furcht und Flucht vor Verantwortung glaubhaft darzustellen.

In dieser Inszenierung will die Liebe spielen. Den häuslichen Alltag will sie nicht. Schreiende Kinder will sie auch nicht. Sei endlich still! Auch lebensnahe Kunst kann gesellschaftliche Probleme nicht lösen, aber sie kann Fragen aufwerfen. Deshalb erzählt die Regisseurin nicht eine, sondern viele Medea-Geschichten. Oder dem der Medea ähnliche Schicksale, denn Rache ist kaum im Spiel. Am Ende reden Frau und Mann gleichzeitig. Sie ist wieder am Träumen, spricht von Liebe, beklagt das Scheitern. Er redet von Karriere, Selbstverwirklichung und Fußball. Er sagt: »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«.

8.-11. und 28.-31.1., 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg

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