nd-aktuell.de / 10.01.2009 / Kultur / Seite 18

Überfluss macht krank

Britischer Autor fordert eine radikale Abkehr von der westlichen Konsumsucht

Martin Koch

Unter Umweltschützern kursiert ein böser Witz. Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Fragt der eine: »Hallo, wie geht's?« »Gar nicht gut«, antwortet der andere. »Was ist los?« »Ich habe Homo sapiens.« Darauf der erste: »Mach dir nichts draus, das hatte ich auch mal. Das geht vorüber.«

Es fällt gewiss schwer, über so viel Sarkasmus überhaupt zu schmunzeln, auch wenn nichts darauf hindeutet, dass die Menschheit demnächst tatsächlich aussterben könnte. Im Gegenteil: Im Jahr 2008 ist die Weltbevölkerung um fast 82 Millionen Menschen gewachsen. Sonach leben derzeit über 6,75 Milliarden Menschen auf der Erde. 2050 werden es schätzungsweise neun Milliarden sein. Unser Planet nähere sich damit den Grenzen seiner ökologischen Belastbarkeit, schreibt der britische Autor John Naish in einem Buch »Genug«, in dem er seine Leser zugleich auffordert, sich von den Fesseln der ökologisch verderblichen Überflussmentalität zu befreien. Denn die meisten Menschen in der westlichen Welt hätten eigentlich alles, was sie zu einem schönen und erfüllten Leben benötigten, meint Naish. Trotzdem strebten sie immerfort nach mehr – nach mehr Wachstum, mehr Besitz, mehr Information, mehr Glück.

Und nichts scheint diese Entwicklung aufhalten zu können. Dabei verbraucht die Menschheit schon heute 20 Prozent mehr Ressourcen als die irdische Biosphäre hergibt. Auch Klimaschützer warnen: Der enorme Kohlendioxid-Ausstoß verwandele die Erde langsam aber sicher in ein Treibhaus. Was dann geschehen wird, kann zwar niemand genau vorhersagen. Aber es gibt Modellrechnungen, in denen ein Szenario immer wieder auftaucht: Zuerst schmelzen die Eisvorräte der Erde, dann steigen die Meere an und zuletzt versinken große Teile des Flachlandes in den Fluten.

Während einige Wissenschaftler glauben, dass der Mensch bereits alle Chancen verspielt habe, um eine solche Katastrophe überhaupt noch abwenden zu können, geben andere die Hoffnung nicht auf. Naish ist einer von ihnen, obwohl er weiß, dass wir auf der Erde nur dann überleben können, wenn die reichen Länder schon heute anfangen, ihren Konsum deutlich zu drosseln. Auch Politiker geben das in Sonntagsreden gern zu, erklären aber sogleich, dass eine weitere Konsumsteigerung vorerst notwendig sei, um unsere Wirtschaft vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Naish lässt solche Argumente nicht gelten. Zumal er als »notorischer Optimist« auf die suggestive Kraft von Vorbildern vertraut. So besitzt er beispielsweise kein Handy und pendelt mehrmals pro Woche mit dem Zug von Brighton nach London, wo er als freier Journalist bei der »Times« tätig ist. Er unternimmt mit seiner Frau gern ausgedehnte Spaziergänge und widmet sich ausgiebig seinen Hobbys. Für das Privileg, mehr freie Zeit zu haben, hat er sogar auf eine feste Anstellung bei der Zeitung und damit auf ein erheblich höheres Gehalt verzichtet. Zur Begründung zitiert Naish den chinesischen Philosophen Laotse: »Wer weiß, dass er genug hat, ist reich.«

Viele Nachahmer dürfte eine solche Lebensphilosophie auf Anhieb kaum finden. Auch Naish macht sich hierüber keine Illusionen. Wie aber kann man Menschen überzeugen, sich von der alles dominierenden Konsummentalität zu lösen? Indem man ihnen eindringlich deren Nachteile vor Augen führe, schreibt der Autor, für den das Essen hierfür ein gutes Beispiel ist: »Seit Anbeginn der Zivilisation schwelgten unsere hungrigen Vorfahren in Träumen von einem Leben in stetem Überfluss.« Namentlich der Verzehr von süßen und kalorienreichen Speisen ist für unseren Körper ein unwiderstehliches Vergnügen, bei dem unser Gehirn sogar opiumähnliche Substanzen ausschüttet. Nur leider besitzen die meisten Menschen kein zuverlässiges Sättigungsgefühl und essen deshalb oft mehr als notwendig wäre. Für unsere Vorfahren, die nie wussten, wann es die nächste Mahlzeit gab, zahlte sich ein solches Verhalten aus. Heute jedoch führt reichliches Essen nur dazu, dass Menschen übergewichtig werden. Auch die Hoffnung auf eine Diät ist trügerisch. Haben wir nämlich beim Abnehmen 10 Prozent unseres Gewichts verloren, signalisiert unser Körper Gefahr im Verzug: Die Gewichtsabnahme stagniert, die Disziplin erschlafft, der Heißhunger bleibt. Die Auswertung von 31 klinischen Langzeitstudien ergab, dass zwei Drittel der Probanden nach einer Diät innerhalb von fünf Jahren ihr altes Gewicht wiederhatten – und mehr. Denn das Fatale an jeder Diät ist, dass sie Menschen nicht wie gewünscht vom Essen ablenkt, sondern sie vielmehr zwingt, sich darauf besonders zu konzentrieren.

Ähnlich wie beim Essen geraten Menschen auch beim Einkaufen in Schwierigkeiten, wenn das Warenangebot zu groß ist. Das haben die US-Psychologen Mark Lepper und Sheena Iyengar unlängst in einem Experiment gezeigt. Sie stellten in einem Supermarkt einen Probiertisch für Marmelade auf. Wenn sie dort sechs Sorten zum Kosten anboten, kauften hinterher 30 Prozent der Kunden ein Glas Marmelade. Bei 24 Sorten waren es dagegen nur 3 Prozent. Auch andere Studien bekräftigen, dass bei einem Überangebot an Waren die Konsumenten ihre Kaufentscheidung häufig vertagen oder im Extremfall ganz auf den Erwerb der Ware verzichten.

Gleichwohl sind in unserer Gesellschaft die meisten Leute täglich dazu verdammt, aus einer schier endlosen Palette von Produkten die vermeintlich besten auszuwählen. Haben sie dann ihre Wahl getroffen, kehrt bei vielen dennoch keine Zufriedenheit ein, da sie befürchten, ein noch besseres Angebot verpasst zu haben. In den USA ist diesbezüglich bereits ein neues Akronym im Umlauf: »Yeppies« – Young Experimenting Perfection Seekers. Frei übersetzt sind das junge (und häufig auch ältere) Menschen, die sich unentwegt auf der Suche nach perfekten Angeboten und Lebensentwürfen befinden. Zwar sei das mysteriöse Etwas, nach dem Yeppies strebten, oft unerreichbar. Dennoch hielten sie stur an ihren überzogenen Erwartungen fest, meint die Anthropologin Kate Fox: »Sie hüpfen von Job zu Job, von Laufbahn zu Laufbahn und suchen verzweifelt nach dem idealen Beruf.« Oder nach dem idealen Partner. Weil es den naturgemäß nicht gibt, sind Yeppies erst gar nicht willens, eine länger dauernde Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Man wechselt, probiert aus – und scheut letztlich die Entscheidung. Umfragen zufolge wollen heute immer mehr junge Frauen und Männer ein Single-Dasein führen. Daneben jedoch klagen dieselben Personen, sie würden im Alltag nicht genügend Liebe und Geborgenheit finden. »Schuld« an diesem Paradoxon, meint Naish, sei unter anderem die westliche Überflussmentalität, die zu überwinden mithin auch für das menschliche Zusammenleben von Vorteil wäre.

Ein letzter Punkt: Fast zwei Drittel der 20- bis 30-jährigen US-Amerikaner, so hat eine Studie ergeben, schauen heute fern und surfen gleichzeitig im Internet. Aber anders als gemeinhin angenommen bringt die wachsende Flut von Informationen unser Gehirn nicht extra in Schwung. Im Gegenteil. Nach einer kürzlich durchgeführten Untersuchung verliert jemand, der einen Text am Computer schreibt und zwischendurch immer wieder seine E-Mails checkt, bis zu 10 Punkte seines Intelligenzquotienten (IQ)! Das heißt, sein Gehirn befindet sich in einem Zustand, wie er ansonsten nach einer schlaflosen Nacht auftritt.

An einigen Stellen seines Buches gibt Naish übrigens auch Tipps, wie man zufriedener leben kann, ohne von allem immer mehr haben zu müssen. Manches davon klingt recht weltfremd, anderes könnte für Menschen durchaus bedenkenswert sein, zumindest für Menschen, die sich genug leisten können. Denn dass in unserer Gesellschaft viele Leute erst gar nicht in die Versuchung kommen, auf Überflüssiges zu verzichten, weil ihnen das Notwendige fehlt, darauf geht der Autor leider nur am Rande ein. Etwa wenn er seinen Landsmann William Shakespeare zitiert: »Es sind die ebenso krank, die sich mit allzu viel überladen, als die bei nichts darben.«

John Naish: Genug. Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen. Verlag Ehrenwirth, geb., 299 Seiten, 18 EUR.