»Is that so bad?«

Gwynne Dyer fordert Abzug aus Afghanistan und Irak

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Es steht nach meiner festen Überzeugung fest, dass Georgien den Konflikt vom Zaun gebrochen und angefangen hat und dass Russland nicht unangemessen reagiert hat.« Diese klare Auffassung vertritt der in London lebende kanadische Historiker und Nahostexperte Gwynne Dyer und man tut gut daran, ihn gleich weiter zu befragen. »Die iranische Bombe ist von der Tagesordnung verschwunden, seit die 16 amerikanischen Geheimdienste mit der Meldung, Iran habe seit 2003 sein Atomwaffenprogramm eingestellt, den Wildentschlossenen in der Bush-Adminstration die Mitwirkung versagt haben«, lautet sein nächster Satz. Viele siner Sätze wirken selbst wie Bomben.

Als junger Historiker lehrte Dyer in den 1970er Jahren an der berühmten Royal Military Academie in Sandhorst und gilt seit drei Jahrzehnten als einer der wenigen Journalisten, die aus unabhängiger Perspektive und aus eigener Kenntnis der wichtigsten Entscheidungsträger zwischen Istanbul und Neu Delhi berichten. In seinem hier anzuzeigenden Buch geht es um Szenarien nach einem von ihm befürworteten schnellen Abzug westlicher Truppen aus Irak und Afghanistan.

Er dekliniert die innerirakischen Optionen nach einem solchen Abzug nach den drei großen Bevölkerungsgruppen: Kurden, Schiiten und Sunniten. »Nichts wird schrecklicher als der gegenwärtige Zustand, aber es tun sich Möglichkeiten auf, die im Augenblick verbaut sind.« Für Afghanistan sieht er ähnliches. Er analysiert in beiden Fällen die Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. Das mit Abstand gefährlichste Problem sieht er in einem der wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten: Pakistan. »Das Land ist groß, hat viele Menschen und besitzt die Bombe.« Gemeint ist die Atombombe. Dyer ist der Auffassung, dass sich Iran mit seinem Atomprogramm lediglich in die Lage versetzen wollte, kurzfristig ebenso Atomwaffen herstellen zu können, wie es außer den offenen oder heimlichen Atommächten mehrere Dutzend Staaten können.

Der Autor übersetzt auch die berüchtigte Vernichtungsrede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad (von dem er übrigens gar nichts hält) neu. Nicht die in der »New York Times« veröffentlichte Übersetzung sei richtig, dass Israel von der Landkarte getilgt werden müsse. Er zitiert den Übersetzungsvorschlag eines in Michigan lehrenden Nahostexperten: »Der Imam sagte, dass dieses Regime, das Jerusalem besetzt hält, von den Seiten der Zeit verschwinde.« Regimes, die von den Seiten der Zeit getilgt wurden, seien die Sowjetunion und Saddam Husseins im Irak sowie das des Schahs im Iran selbst, das vor nunmehr genau 30 Jahren gestürzt worden ist. »Das mag nach Wortklauberei klingen«, sagte Dyer im Gespräch mit dem Rezensenten im vergangenen Jahr in Berlin, »aber die Falken in Israel und Washington machen doch damit Politik.« Er sieht eine verhängnisvolle Achse zwischen der Kriegspartei in Israel und der in den USA, die er »Likudanians« nennt.

Dyer differenziert in seinem Buch nach einzelnen, auch kleineren Ländern. Man erfährt z. B., dass der Inselstaat Bahrein eine schiitische Mehrheit hat, dass in Syrien eine Minderheit von sunnitischen Alawiten die schiitische Mehrheit beherrscht, dass in Libanon seit 1932 (!) keine Volkszählung mehr stattgefunden hat, die den vorgeschriebenen Proporz unter den Religionsgruppen in Parlament und Regierung aktualisieren müsste.

Dyer prophezeit, dass sich zwischen den arabischen und nicht-arabischen Muslimstaaten, zwischen sunnitischen und schiitischen, zwischen ölreichen Ländern und solchen, die Öl importieren müssen, viel tun wird. Und er mahnt: »Ohne westliche Einmischung wird der Prozess aller Wahrscheinlichkeit nach besser verlaufen.« Auf meine Feststellung, dass Europa da wohl nicht viel tun könne, entgegnete er entwaffnend: »Is that so bad?« (Ist das so schlecht?)

Gwynne Dyer: Nach Irak und Afghanistan. Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen? Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008. 248 S.,geb., 19,90 EUR.

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