Bis zum nächsten Wodka

Artur Becker führt in seinem Buch in ein masurisches Dorf

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Deutsche und Polen: ein altes Trauerspiel. Rot-Blau-Polacksfrau, so sang ein Schmäh-Vers meiner Kindheit von den Nachbarn. Die »polnische Wirtschaft« ist die sprichwörtliche deutsche Abfälligkeit. Dass uns die Nachbarn nicht positiv sehen, versteht sich aus der Geschichte: So viel deutsche Untat haben nur noch die Russen kennen gelernt. Deshalb ist ein Roman eines in Masuren geborenen Menschen, dessen Eltern polnisch-deutscher Herkunft sind, der seit 1985 in Westdeutschland lebt, mit großer Spannung zu erwarten: Wird er aus der doppelten Herkunft, der zwiefachen Lebensweise neue Kenntnisse für uns schöpfen, kann er uns Aufschluss geben über das Vorurteil, hilft er uns zu urteilen?

Erzählt wird von Artur Becker, dem Autor von »Wodka und Messer – Lied vom Ertrinken«, über einen Mann deutsch-polnischer Herkunft, der im Westen Deutschlands lebt und eines dieser vergessenen Dörfer Masurens besucht, in dem er aufgewachsen ist. Nicht nur aufgeladen mit der schwierigen Geschichte der beiden Nachbarvölker, auch mit der persönlichen Geschichte der Hauptfigur, beginnt der Roman mit großer sprachlicher und dramatischer Intensität: Seinen Vater will Kuba (eine polnische Koseform von Jakob) Dernicki besuchen, den Vater, der seine Mutter umgebracht hat.

Auch den Spuren seiner ersten großen Liebe will Kuba folgen, jener Marta, die auf der Flucht vor dem polnischen Sicherheitsdienst im Dadaj-See ertrunken ist, einem Gewässer, das »unersättlich war und immerfort neue Opfer forderte«.

Mit der Medizinstudentin Marta, dem Kind von Funktionären des sozialistischen Polen, nimmt der Roman seine erste Fahrt auf: »Wolna Europa«, Freies Europa, ist Martas Spitzname und sie stellt die Verbindung zwischen den streikenden Arbeitern und den solidarischen Studenten in Gdanks her. Mit ihr gemeinsam versucht Kuba vor den Behörden zu fliehen. Er schafft es bis in die Bundesrepublik.

Damit nicht genug, ist Kuba mit zwei Bauchnabeln begabt: Der zweite ist die Narbe die blieb, als ihm spät das Skelettchen seines Zwillingsbruders entnommen wurde, eines Zwillings, der in ihm starb und lagerte, als er alleine das Licht der Welt erblickte. Wenn Kuba jetzt auch noch Glas zersingen könnte!, fällt mir während des Lesens ein – wie Oskar Matzerath, der wundersame Held aus der Grassschen »Blechtrommel«.

Verstärkt wird die nicht unangenehme Erinnerung an Grass durch die erzählte masurische Landschaft und die Bereitschaft, die Dinge beim Namen zu nennen, um der Geschichte Willen: Teufel wären die Deutschen, weiß Kubas Großmutter, sie »seien genauso hinterhältig wie die Ukrainer und die Juden«.

Die Farben der Herkünfte, der Ruch des Vorurteils, ein Hör- und Riechbild ist angerichtet und der Wunsch zu Lesen, mehr zu wissen, wächst von Seite zu Seite. Aber dann lässt Becker den Wodka fließen und ein Messer erzählen, und was wie ein modernes Volksmärchen begonnen hat, wird zum trunkenen Zerrbild, ein durch die Gegend taumelnder Text, dem angelegten Erzählfaden nicht trauend, das zu Beginn gemachte Versprechen nicht einlösend.

Ein Ebenbild der Marta taucht auf, die schöne Hoteldirektorin Justyna. Was wird Kuba machen? Verlieben wird er sich. Was soll der Leser machen? Lange denken, dass es auch die längst verstorbene Marta sein könnte. Das lässt die Mythen um den See wallen, das gibt den bemühten Figuren einen Schimmer von irgendwas. Zunehmend erscheinen Landschaft, Dorf und Menschen als Kulisse, werden die Accessoires wichtiger als eine Handlung, die sich im Nebel Masurischer Seen verliert. Automarken, Namen von Außenbordmotoren und Konzert-Titel werden vorgewiesen wie Trophäen: Seht her, das kenne ich auch und das »Lied vom Ertrinken« singt von einem abgesoffenen Roman.

Was macht es, dass Becker von seinen Protagonisten den Irak-Krieg, an dem die Polen bis jüngst treu teilnahmen, als schreckliche Vergeudung von Blut verurteilen lässt; was nützt es, wenn er die neuen politischen Verhältnisse in Polen als Karikatur der alten schildert; welchen Gewinn zieht der Leser aus dem bösen Lächeln des Autors über die katholische Kirche, wenn der Blick der Menschen seines Romans kaum über die eigene Nasenspitze hinauslangen und ihre Gedanken nur bis zum nächsten Wodka reichen?

Es ist eine bemühte Folklore, die das verrottende Dorf in Masuren umweht, und der aus dem Westen rein gereiste Kuba hat darin seinen Platz als Reiseführer ohne Ziel. Zwar schwimmt der Roman einer Lösung zu, doch bleibt sie eher Auflösung. Romane werden nicht als Lebenshilfen geschrieben. Aber nützliche Lebensmittel dürften sie schon sein.

Artur Becker: Wodka und Messer – Lied vom Ertrinken. Roman. Weissbooks. 480 S., geb., 22 EUR.

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