Theatermarathon zum Siedepunkt

Über 100 freie Produktionen beim sechsten »100° Berlin« im Hebbel am Ufer und den Sophiensaelen

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Gruppe Instant Message Service zeigt performative Lesungen.
Die Gruppe Instant Message Service zeigt performative Lesungen.

60 Seiten umfasst die Broschüre zum 6. Langen Wochenende des freien Theaters. Soviel Platz braucht es, um die über 100 Stücke und Performances von 120 Gruppen vorzustellen, die sich vom 19. bis 22. Februar im Stundentakt auf den Bühnen und weiteren Spielplätzen des Hebbel am Ufer (HAU) und der Sophiensaele drängeln. Wer nichts verpassen möchte, dem sei für 44/28 Euro der Festivalpass empfohlen. Zwischen den Veranstaltungsorten pendeln hörspielbeschallte Shuttle-Autos.

Neben Theater und Performance bietet »100° Berlin«, jener Vier-Tage-Marathon aus Plattform, Messe, Markt, Diskussionsforum und Party auch Aktion, Musik und Live-Art. Eine Fachjury wählt wieder die besten Inszenierungen aus, die dann in die regulären Spielpläne von HAU und Sophiensaelen übergehen. Begehrt wie eh ist der Publikumspreis. Die Sieger des 100°-Song-Wettbewerbs performen bei der Eröffnung in den Sophiensaelen. Bevor die Fachjury am letzten Festivaltag ihre Favoriten küren kann, hat sie sich mit den Zuschauern durch die Siedehitze permanent bespielter Bühnen zu kämpfen. Und da erwartet sie einiges.

Viele der jungen Teilnehmer, ob im Solo oder in einer Gruppe, suchen nach Antworten auf individuelle, soziale, politische Fragen und erproben ungewöhnliche Theaterformen. So ruft »Manfred heißt Freiheit« die Republik Manfredonia als Ein-Mann-Staat-Utopie aus, recherchiert »Gabylon« die Ereignisse im Inneren einer Spülmaschine, nimmt sich Banality Dreams mutig die Werte und Kommunikationsformen des 21. Jahrhunderts vor, lädt »Intime Aufstände« zu Monologen über Gedankenwelten und Situationen. Daniel Cremer inszeniert eine absurde Fabel um unerklärliches Massensterben von Honigbienen, Daniel Wittkopp um den »Hund im kalten Blechbach«, die Azubis um eine Landpartie mit Angeln.

Fünf junge Erwachsene auf der Suche nach dem Drogen-Kick zeigt die Generation XTC, »Mickey« porträtiert einen Nachtwächter in Teilzeit, vom fatalen Dilemma des Menschseins berichtet eine Hörspielperformance. Die realen Erschütterungen der Arbeitswelt thematisiert Katharina Fial, Lesedüne behauptet »Kapitalismus ist irgendwie anstrengend«. Und Blinddate mit Sombrero lässt in ihrer Geschichte des Landwehrkanals Luxemburg und Liebknecht erscheinen.

Raum hat das Festival auch für die ganz Jungen. So fragt der Jugendklub des HAU, wann man erwachsen ist, so darf die JugendTheaterWerkstatt Spandau tanzend Abenteuer erleben, dürfen die Shakespeare-Kids »König Lear – Gewalt spielen« und die Schüler von United Classroom über die Verletzlichkeit der Würde nachsinnen. Das Theater der Migranten stellt in »Oppelner Straße« den Bezug zum polnischen Opole her, die Spätzünder, Berlins älteste Seniorentheatergruppe, knabbern szenisch und musikalisch am »Gnadenbrot«.

Besonders viele Akteure setzen sich mit Stücken arrivierter Autoren auseinander. In Ödön von Horvaths Solo »Sechsunddreißig Stunden« brilliert Angela Hundsdorfer, deftiger dürfte es bei Bridge Markland zugehen, die Kleists »Zerbrochenen Krug« durch Handpuppen und Popmusik auffüllt. Inspiration boten den Teilnehmern auch Kleists Essay »Über das Marionettentheater«, seine Novelle »Der Findling«, Shakespeares und Pasolinis Gedichte, Kafkas »In der Strafkolonie«, Calvinos »Kosmokomische Geschichten«, Sarah Kanes »4.48 Psychose«, Tankred Dorsts »Feuerbach & Ich«, das Leben von Marguerite Duras, Frida Kahlo, Antonin Artaud. Als Puppentheater für Große sind selbst die Nibelungen mit von der Partie.

19.-22.2., HAU (Kartentelefon 25 90 04 27) und Sophiensaele (283 52 66), weitere Infos unter www.hebbel-am-ufer.de, oder unter www.sophiensaele.de

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