Verordnete Blutsverwandtschaft

Am 4. März 1919 wurde in Moskau die Kommunistische Internationale gegründet – Das Personal der Weltpartei

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Abschlussfoto – ein Gruppenbild, das über Jahrzehnte tabu war.
Das Abschlussfoto – ein Gruppenbild, das über Jahrzehnte tabu war.

»Völker, hört die Signale!« – die vom Franzosen Eugène Pottier (1816-1887) gedichtete »Internationale« war zur Hymne der kommunistischen Weltbewegung avanciert. Von den Signalen, die Anfang 1919 aus Moskau in Form von Depeschen und Funksprüchen in die Welt geschickt worden sind, erreichten nur einige jene Kampfgefährten, die den russischen Bolschewiki aus ihrer einstigen Exilzeit bekannt waren. So unterschiedlich die überlieferten Erinnerungen der wenigen ausländischen Teilnehmer der Tagung Anfang März in der Hauptstadt Sowjetrusslands war, die erst rückwirkend zum Gründungskongress der Kommunistischen Internationale erklärt worden ist – in einem Punkt gibt es keine Differenzen: Alle gen Sowjetrussland aufgebrochenen Männer und Frauen schildern, wie schwer es war, in dieser noch vom Völkergemetzel des Ersten Weltkrieges überschatteten Zeit Russland auf dem Landweg oder übers Meer zu erreichen. Nicht alle schafften es, einige wurden unterwegs von »Ordnungshütern« verhaftet oder kehrten wegen unpassierbarer Fronten um. Andere trafen mit großer Verspätung ein.

Von August bis Dezember 1918 waren in Deutschland, Finnland, den Niederlanden, Österreich, Ungarn und Polen kommunistische Parteien gegründet worden. Die Polen und die Finnen hatten ein Büro beim ZK der KPR(B). Außerdem existierte seit November 1918 ein Zentralbüro der muslimischen kommunistischen Organisationen, das Anfang März 1919 in Zentralbüro der kommunistischen Organisationen der Völker des Ostens umbenannt wurde.

55 Delegierte, Vertreter linker Gruppen und Strömungen, sowie Dolmetscher, Journalisten und Gäste nahmen am Akt der Gründung der KI am 4. März 1919 teil. Als am letzten Tag im Kreml ein Gruppenbild aufgenommen werden sollte, fehlten schon einige. So war bereits die ukrainischen Delegation abgereist.

Ebenso schwer wie die Anreise gestaltete sich für viele die Fahrt wieder zurück in ihre Heimat. Mustafa Subhi, ein ehemaliger Kriegsgefangener, wurde in der Türkei verhaftet und erschossen. Der Schweizer Fritz Platten versuchte erfolglos die Route zu nutzen, auf der er ins Land gekommen war. Auch sein Plan, die Fronten mit dem Flugzeug zu überfliegen, ging nicht auf. Zwei Mal musste der Pilot notlanden, Platten wurde eingekerkert und ausgewiesen. Schließlich gab er auf und blieb in der Sowjetunion. Doch der Grundstein war gelegt, Lenins Plan der Schaffung einer neuen, wahrhaft revolutionären Internationale, in Erfüllung gegangen. Der Generalstab der Weltrevolution sah sich als zukünftige Weltregierung. Lenin zweifelte nie daran, dass »der Bolschewismus zur weltumspannenden Theorie und Taktik des internationalen Proletariats geworden« sei.

Dies sah Georgi Tschitscherin, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, anders. Er hatte in Lenins Auftrag den Kongress vorbereitet, polemisierte aber vergeblich gegen die Reduzierung der von den Linken gesammelten Erfahrungen auf die der Bolschewiki. Tschitscherin meinte, dass der Typus der Sowjetmacht in Russland nicht der einzige sei, mit dem man in künftigen Revolutionen rechnen müsse und könne. Wäre sein Standpunkt in der Folgezeit berücksichtigt worden, hätte die Komintern sich offen gehalten für jene zahlreichen Parteien und Organisationen, die in den Kriegsjahren aus der etablierten sozialistischen Bewegung ausgegrenzt worden waren. Die Alternative, die der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten allerdings nicht beim Namen nannte, lautete: eine Internationale von Weltrevolutionären oder eine Internationale der Bolschewiki.

Grigori Sinowjew, der vom Führungszirkel der Kommunistischen Partei Russlands nach dem Gründungskongress als Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern eingesetzt wurde, teilte Tschitscherins Bedenken nicht. Und von den nach Moskau durchgekommenen Ausländern bestand nur der deutsche Kommunist Hugo Eberlein auf einer der Gründung vorausgehenden internationalen Diskussion der programmatischen Plattform der anzustrebenden Weltpartei. Weil der deutsche Delegierte zu den wenigen Tagungsteilnehmern gehörte, die mit dem Mandat einer existierenden Kommunistischen Partei auftraten, konnte Lenin dessen Einwände nicht einfach ignorieren. Doch mit dem Eintreffen des österreichischen Delegierten Karl Steinhardt veränderte sich die Situation. Lenin nutzte den Stimmungsumschwung und stellte die Gründungsfrage erneut zur Abstimmung. Damit wurde die während der Vorbereitung und Durchführung der internationalen kommunistischen Konferenz umstrittene Losung von der Gründung der Weltorganisation zum Credo der Kommunisten in aller Welt. Der neuen Internationale sollten nur jene Parteien angehören, die »für die sozialistische Revolution jetzt« eintraten. Die aus Lenins Sicht bedauerliche deutsche Erfahrung veranlasste ihn, die prinzipielle Anerkennung der Sowjetmacht als einzig möglichem Typus der Macht einzufordern. Dieser Typus der Sowjetmacht war höher und dem Sozialismus näher als der bürgerliche Parlamentarismus.

Mit der Zeit geriet das Gruppenbild, welches eigentlich das Paradefoto der neuen Weltorganisation werden sollte, schnell in Vergessenheit. Es wurde nur selten veröffentlicht, weil auf ihm viele, dem Großen Terror zum Opfer gefallene Funktionäre zu sehen sind. 21 der 66 namentlich bekannten Teilnehmer wurden in den Jahren des Terrors in der UdSSR verfolgt und eingesperrt, zwölf von ihnen erschossen. Das Todesjahr von neun Kongressteilnehmern ist nicht bekannt. Sechs wurden zu »Besserungsarbeitslager« verurteilt, drei verstarben im Gulag bzw. im Gefängnis. Zwei wählten den Freitod, der tschechiche Delegierte kam im deutsch-faschistischen KZ um, vier wurden Opfer von Attentaten.

Der Hinweis auf die in den Terrorjahren umgebrachten bzw. die überlebenden Gründungsmitglieder reicht jedoch nicht als Erklärung dafür, dass dieses Foto nach dem III. Kongress der Komintern 1921 nicht mehr verbreitet und publiziert worden ist. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass dieses Gruppenbild die sowjetrussische Dominanz des Gründungskongresses belegt. Zudem fehlen auf dem Foto die führenden Repräsentanten der später in der Komintern vertretenen Parteien.

Die Namen von 30 am Gründungskongress teilnehmenden Delegierten finden sich auch auf den Listen der Folgekongresse. An allen Weltkongressen der KI nahmen nur drei Gründungsmitglieder teil. Von den auf dem Foto zu sehenden und im Stenogramm des I. Kongresses genannten Personen arbeiteten elf in der Folgezeit für die Komintern, fünf brachen später mit der Bewegung. 18 Delegierte erlebten den XX. Parteitag der KPdSU(B). Zum 50. Jahrestag der Gründung waren noch vier von ihnen am Leben. Der letzte Augenzeuge verstarb 1983.

Im Ergebnis des Ersten Weltkrieges entstanden, hat die Komintern den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Nach ihrer Auflösung im Jahre 1943 hinterließ sie zahlreiche Erben, die noch ein halbes Jahrhundert lang die Weltpolitik beeinflussten. Die Kommunistischen Parteien Europas, Asiens und Lateinamerikas entfernten sich immer mehr von den doktrinären Prinzipien der Kominternepoche, doch keine dieser Parteien bestritt je die Blutsverwandtschaft mit der russischen Revolution und der Diktatur der Bolschewiki.

Von Wladislaw Hedeler erschien jüngst ein gemeinsam mit dem russischen Historiker Alexander Vatlin herausgegebener Dokumentenband »Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919« (Akademie Verlag, 440 S., 98 EUR).

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