• 7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

Mit zehn Mark nach Hamburg zur Internorga

  • Monika Lohse, 07546 Gera
  • Lesedauer: 3 Min.
»Fahrt ruhig. Hauptsache, es kostet nichts und die Arbeit in der Redaktionsabteilung läuft voll weiter!« So lautete damals Ende 1989, Anfang 1990 die Devise der Chefredaktion unserer Zeitung. Es kamen die unglaublichsten Einladungen von »drüben« ins Haus. Wie die zu einem einstündigen Vortrag über die Vorteile eines Hundes bei der Erziehung von Kindern zur Verantwortung – gesponsert von einer Hundenahrungsfirma und verbunden mit einem dreitägigen Aufenthalt auf Gran Canaria.

Ich durfte nach Hamburg fahren zur Internorga, einer Messe für Gaststätten, Hotellerie und Nahrungsmittel. Ausgestattet mit einer Reisekasse von zehn Mark West machte ich mich von Thüringen aus auf den Weg. Zwei Erlebnisse im Zug brachten mich gleich ins Grübeln. Das erste war die übergründliche, unfreundliche Kontrolle vor dem Verlassen der DDR: Einladung, Dienstauftrag, Personalausweis, Presseausweis, Fotoapparat – alles wollte der Mann vom Grenzschutz sehen. Zum Glück war ich gewappnet.
Das zweite Erlebnis war mein älterer Abteilnachbar, mit dem ich ins Gespräch kam. Er war auf der Rückreise von Verwandten im Osten, trank eine Büchse Bier nach der anderen, atmete schwer, humpelte stark, Folge mehrerer Arbeitsunfälle in einem großen Autowerk und meinte, ein paar Jährchen müsse er schon noch »wackeln«. Ich konnte es nicht fassen, »bei uns« bekäme der Mann sicher längst Invalidenrente.

In Hamburg angelangt, wurde ich auf dem Hauptbahnhof gleich mit den westlichen Errungenschaften konfrontiert. In der Toilette lief kein Wasser aus dem Hahn, erst zufällig beim Bewegen der Hände unter demselben. Zum Kauf der S-Bahn-Fahrkarten standen nur Automaten da. Einem solchen Monster meinen kostbaren Zehnmarkschein West anzuvertrauen, getraute ich mich nicht und wechselte ihn vorsichtshalber an einem Zeitungsstand.
Auf der Pressekonferenz der Internorga wurde ich überschwänglich von der verantwortlichen Dame begrüßt und umarmt. Plötzlich wurde mir bewusst, wie exotisch ich wirken musste. Bekleidet mit einem kamelfarbigen langen Mantel (Berlin Moden), geschmückt mit einer Holzbrosche mit russischer Lackmalerei und auf dem Kopf eine Kunstpelzschapka schien ich direkt aus Sibirien zu kommen. Ich erinnere mich auch noch an das Riesenbüfett mit kulinarischen Köstlichkeiten, an dem wir Ostjournalisten uns nur bescheiden bedienten, die Westkollegen um so mehr, und die blöden Plastenäppchen mit Kaffeesahne, die beim Öffnen auf jeden Fall kleckerten.

Auf der Rückfahrt verbummelte ich beim Kramen und Lesen in der Bahnhofsbuchhandlung die Zugabfahrt. Am Schalter erkundigte ich mich nach einer anderen Verbindung und fragte naiv, über welchen Grenzübergang es gehe. Da pflaumte mich der Mann hinter der Scheibe an: »Meine Dame, es gibt keine Grenzübergänge mehr!«
Gab es doch! Bei der Einfahrt auf den ersten Bahnhof im Osten schallte es aus dem Lautsprecher laut und deutlich: »Herzlich willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik!« Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr mich das freute. Damals, als ich noch nicht ahnte, wie schnell es mit der DDR zu Ende gehen würde.
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