Erinnerung an einen Tabubruch

Vor 50 Jahren verlangte Frankreichs Präsident de Gaulle die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze

  • Conrad Taler
  • Lesedauer: 3 Min.
1959 wagte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle die Provokation der deutschen Nachbarn, indem er die Westgrenze Polens anerkannte. Die endgültige Abtretung ehemaliger deutscher Reichsgebiete fand noch ein Jahrzent lang heftige Widersacher.

Heute erscheint sie den meisten als selbstverständlich, die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa. In der BRD war sie jedoch lange Zeit Gegenstand heftiger Kontroversen. Hauptsächlich ging es um die nach dem zweiten Weltkrieg festgelegte Westgrenze Polens entlang der so genannten Oder-Neiße-Linie. Viele liefen Sturm gegen die damit verbundene Abtretung ehemals deutscher Gebiete: die Vertriebenenverbände, die von der CDU geführten Bundesregierungen und auch die SPD als Oppositionspartei. Die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze war Staatsdoktrin. Wer Anderes wollte, wurde politisch verfemt.

Die Westmächte hielten der Bundesregierung als Dank für die Partnerschaft im Kalten Krieg so lange die Stange, bis der französische Staatspräsident Charles de Gaulle am 25. März 1959 das Tabu durchbrach und das politische Bonn damit in seinen Grundfesten erschütterte. Als die deutschen Verbündeten versuchten, die Aussage de Gaulles herunterzuspielen, entschloss sich die französische Botschaft dazu, eine offizielle Version der Äußerungen ihres Präsidenten in deutscher Sprache zu veröffentlichen.

Demnach lautete die entscheidende Passage wie folgt: »Die Wiedervereinigung der beiden gegenwärtig getrennten Teile zu einem Deutschland, das völlig frei wäre, betrachten wir als das Ziel und das normale Schicksal des deutschen Volkes, vorausgesetzt, dass es seine gegenwärtigen Grenzen im Westen, Osten, Norden und Süden nicht in Frage zu stellen und gewillt ist, sich eines Tages in eine vertragliche Organisation ganz Europas für Zusammenarbeit, Freiheit und Frieden einzufügen.«

Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« beschrieb die Bonner Bestürzung am 28. März 1959 mit den Worten: »Die Äußerung General de Gaulles ist in Bonn als eine vorweggenommene Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch Frankreich bewertet worden. Die Stellungnahme der Bundesregierung, der Parteien und der Vertriebenenorganisationen bringen das zwar keineswegs mit dieser Schärfe zum Ausdruck, jedoch bewegt sich die tatsächlich nach außen hin nicht so klar ausgesprochene Reaktion zwischen tiefstem Unmut und offener Empörung, da jedermann darin eine als überflüssig angesehene Vorleistung an die Sowjetunion und ihre osteuropäische Gefolgschaft erblickt.«

Sowohl Großbritannien als auch die USA gaben zu verstehen, dass sie die Ansicht de Gaulles weithin teilten. Präsident Eisenhower bezeichnete es als unmöglich, die bestehenden deutschen Grenzen zu ändern, es sei denn auf eine für ihn »unannehmbare« Art und Weise. Die Scharfmacher in Deutschland gaben jedoch keine Ruhe. Der Vertriebenenfunktionär Walter Stain, ehemals Mitglied der NSDAP, erklärte vor Vertriebenen in Würzburg: »Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland wieder mehr Lebensraum finden kann bei Nachbarn, die diesen Raum nicht brauchen.«

Noch viele Jahre mussten ins Land gehen, ehe Willy Brandt als Bundeskanzler mit seiner Entspannungspolitik gegenüber dem Osten der Grenzfrage die Brisanz nahm. Er wurde deswegen von Vertriebenenfunktionären und Unionspolitikern massiv kritisiert und als Handlanger Moskaus beschimpft. 1970 wurde die Oder-Neiße-Linie zunächst unter Vorbehalt als unverletzliche Grenze anerkannt. Die völkerrechtlich verbindliche Besiegelung erfolgte zwanzig Jahre später am 14. November 1990 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den vier Siegermächten des zweiten Weltkriegs einerseits und der Bundesrepublik sowie der gewendeten DDR andererseits.

An die unbelehrbaren Gescheiterten, die 1952 bei der Abstimmung im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gestimmt haben, knüpft heute die CDU-Abgeordnete und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach an, die auch fünfzig Jahre nach dem Bekenntnis de Gaulles zur Unveränderbarkeit der polnischen Westgrenze immer noch meint, mit den Polen eine Rechnung offen zu haben.

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