Ungleiche Gleichheit

Bildung: Schule muss sich den Schülern anpassen – nicht umgekehrt

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Kinder, die an der Carl-Kraemer-Grundschule im Berliner Wedding lernen, haben mit einem Stigma zu kämpfen. Die Schule liegt inmitten eines Viertels der Stadt, das gemeinhin mit sozialer Verwahrlosung assoziiert wird. Dabei sind die Kinder dort nicht dümmer als anderswo, nur sind ihre Startbedingungen eben deutlich schlechter als die von Gleichaltrigen in den bürgerlichen Quartieren. Mit mehr individueller Förderung wollen Schule und Politik diese Ungleichheit bekämpfen. Ähnliches passiert derzeit in Hessen. Dort soll ein obligatorisches Schulvorbereitungsjahr besonders für Migrantenkinder Chancengleichheit herstellen. Das klingt nach einer Pädagogik, die, wie es die Reformpädagogin Maria Montessori schon vor rund 100 Jahren formuliert hat, das Lernen »vom Kinde her denkt«.

Was so klingt, meint aber oft das Gegenteil. Das Problem ist, dass in der Pädagogenzunft keine Einigung darüber herrscht, was unter dem Begriff »individuelle Förderung« zu verstehen ist. In den meisten Schulen gilt: Kinder mit Lernschwächen sollen an ein Leistungsniveau herangeführt werden, das den Durchschnitt widerspiegeln soll. Diese Einstellung herrscht laut einer jüngsten Studie in Berlin an 70 Prozent der Schulen vor – allen Reformbemühungen zum Trotz.

Dieser Konstruktionsfehler, der Gleichheit will, zementiert in Wahrheit die Ungleichheit, indem er dem Lernpotenzial, das in den Kindern steckt, nicht gerecht wird. Nur ein Teil der Schülerschaft erreicht dieses Niveau, der Rest wird über- oder unterfordert. Alles an dieser Pädagogik strebt danach, am Ende der Grundschulzeit vermeintlich homogene Leistungsgruppen festzulegen, anhand derer Schüler auf die jeweiligen Schulformen in der Sekundarstufe aufgeteilt werden. Wo vorher noch die Gleichheit als Ziel betont wurde, wird jetzt den Unterschieden, denen man gerecht werden müsse, das Wort geredet.

Dieses Gerechtigkeitsversprechen ist aber ein falsches! Das Wesen der Gleichheit besteht in der Unterschiedlichkeit der Individuen. »Jedem Schüler individuelle Hilfsangebote zu garantieren, wäre die Zusicherung von Chancengerechtigkeit, nicht von Chancengleichheit«, meinte unlängst der Berliner Erziehungswissenschaftler Hans Eberwein in einem lesenswerten Beitrag für den Berliner »Tagesspiegel«. Das Ziel von Pädagogik, so Eberwein, dürfe nicht »Gleichmacherei« in dem Sinne sein, dass gleiche Lernniveaus hergestellt würden, sondern müsse darin bestehen, die Fähigkeiten, die Stärken und Schwächen eines Schülers zu erkennen und diesem gezielt Lernangebote zu unterbreiten.

Die meisten Schulen versagen in der Förderung etwa von Migrantenkindern aus sozial benachteiligten Familien, weil sie sich nicht für deren Lebenswirklichkeiten interessieren und an diese anknüpfen. Viele Lehrer gehen von einem Idealtypus von Schüler aus, der von der elterlichen Hausbibliothek entsprechend geistig angeregt wird, regelmäßig ins Museum geht und sich nicht von Computerspielen, vom Fernsehkonsum oder dem täglichen Überlebenskampf auf der Straße ablenken lässt. Entsprechend sind die Angebote der Schulen auf diesen Normalschüler zugeschnitten, den es aber gar nicht gibt. Mitunter sind es nur Kleinigkeiten, die zum Ausschluss führen. Wenn es zum Beispiel der Normalfall ist, dass in einer Schulklasse die Lehrkraft mit den Eltern ausschließlich per E-Mail kommuniziert, bleiben die ausgeschlossen, die entweder nicht über die entsprechenden technischen Ressourcen verfügen oder deren Sprachvermögen zu schwach ist, um auf dieser Ebene zu kommunizieren.

Das auf allzu frühzeitige Leistungsbewertung mittels Ziffernnoten fokussierte Schulsystem erfordert geradezu diese Art von Schule. Kindern kleinbürgerlicher oder bildungsferner Herkunft wird damit signalisiert, dass sie sich anpassen und mehr leisten müssen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Dem bildungsbewussten und aufstrebenden Kleinbürgertum mögen diese Anpassungsprozesse in Einzelfällen noch unter Mühen gelingen, für Kinder aus den Familien im Berliner Wedding dagegen sind diese Hürden unüberwindlich.

Die Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung kritisierte jüngst, dass es in den Schulen bei der Entscheidung über den weiteren Bildungsverlauf »zu selektiven Chancenzuweisungen kommt, die nicht durch die Leistung gerechtfertigt sind«. Sich an einem Leistungsgedanken zu orientieren fällt aber häufig Pädagogen schwer, die sich der Herstellung von Chancengleichheit verschrieben haben. Treten etwa bei Kindern im Unterricht Lerndefizite zutage, wird das Anspruchsniveau für diese Schüler mit der Begründung gesenkt, man wolle sie nicht überfordern und sie »behutsam« an das Lernniveau der Anderen heranführen. Selbst Sechsjährige registrieren aber sehr wohl die mit diesem Verhalten verbundene Demütigung. Bildungsgerechtigkeit hieße, auch von diesen Kindern – entsprechend ihrer individuellen Ressourcen – Leistung zu fordern. Dafür aber bedarf es einer anderen Lehrerausbildung, die Pädagogen darin schult, Kinder zu beobachten, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen und ihnen individuell unterschiedliche Lernangebote zu unterbreiten, anstatt sie zu trainieren, mit Hilfe einer Stoppuhr Lerneinheiten zu rhythmisieren.

Pädagogen sind dabei mehr Opfer als Täter. Im gegliederten Schulsystem manifestiert sich die mangelnde Chancengerechtigkeit durch die Festlegung von Leistungsstandards, mittels derer schon frühzeitig selektiert wird. Das geschieht mitunter scheinbar willkürlich, wenn etwa in bayerischen Grundschulen gegen Ende der dritten Klasse von den Lehrern die Anforderungen hochgeschraubt werden, um die Zahl der Übertritte aufs Gymnasium nach der vierten Jahrgangsstufe zu minimieren; eine Leistung, die Anfangs der dritten Klasse noch für eine Zwei in der Klassenarbeit gereicht hätte, genügt jetzt allenfalls für ein Befriedigend. So perfide es klingen mag, das Prinzip der Chancengleichheit wurde dabei nicht einmal verletzt – immerhin waren die Aufgaben für alle Schüler gleich.

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