Ungarns Sozialisten ohne Sozialisten

Politik der Beschneidung der Sozialsphäre wird weiter als alternativlos hingestellt

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Zwei Wochen nach der Ankündigung Ferenc Gyurcsánys, dass er sein Amt als Ministerpräsident niederlegt, hatten sich die Ungarischen Sozialisten zum Parteikongress versammelt.

Mit Ildikó Lendvai wurde erstmals in der Geschichte der Ungarischen Sozialistischen Partei (USP) eine Frau zur Parteivorsitzenden gekürt. Außerdem stellte sich die Partei voll hinter den Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten, den parteilosen Geschäfts- und Wirtschaftsfachmann sowie derzeitigen Wirtschaftsminister Gordon Bajnai. Lendvai wie Bajnai traten ohne Gegenkandidaten an, und beide wurden von mehr als 90 Prozent der Delegierten gewählt.

Angesichts der prekären Lage der ungarischen Wirtschaft und Politik ließ sich der 41-jährige Bajnai nur unter der Bedingung auf seine neue wenig dankbare Aufgabe ein, dass alle sozialistischen Abgeordneten und alle Abgeordneten des ehemaligen Koalitionspartners Bund Freier Demokraten (SzDSz) sich schriftlich auf die Unterstützung seines mehr als harten Sanierungsprogramms verpflichten. Und dies geschah am Wochenende, wenn auch begleitet von einigen typisch ungarischen Komplikationen.

Dass Bajnai am 14. April wie geplant durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Parlament in sein neues Amt gehievt wird, kann zwar als wahrscheinlich, aber nicht als sicher gelten. Unterdessen laufen der USP bereits jetzt die letzten Vertreter der Linken davon.

Dabei geht es um mehr als die brutalen Sparpläne der zukünftigen sogenannten Expertenregierung und die damit einhergehende vollständige Unterwerfung unter das politische Regime des ehemaligen neoliberalen Koalitionspartners SzDSz. Nach mehreren prominenten Austritten in den vergangenen Jahren und zum Teil Übertritten in eine außerparlamentarische Partei namens Ungarische Sozialdemokraten, hat nun eine der Führungspersönlichkeiten des linken Flügels und Gründungsmitglied der USP, Tamás Krausz, seine politische Heimat verlassen. In seiner Austrittserklärung begründet er die Entscheidung mit aktuellen und längerfristigen problematischen Entwicklungen in der Partei. Im Gegensatz zu seinen ursprünglichen Versprechen habe Ferenc Gyurcsány weder vor noch nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise eine andere Lösung entwickelt als die weitere Beschneidung der sozialen Sphäre. Damit sei vorgezeichnet, dass Ungarns Weg auf lange Sicht nicht einer der Annäherung an Westeuropa, sondern einer des Abdriftens an die Peripherie eines zutiefst gespaltenen Europas sei.

Durch diese Politik, so Krausz, sei »die Sozialistische Partei zu einer Zentrumspartei geworden, und dies steht im krassen Gegensatz zu den Erwartungen ihrer Wähler und zur Überzeugung der absoluten Mehrheit der Parteimitglieder«. Gyurcsány habe sich in der Rolle des »ungarischen Blair« gefallen statt an der Schaffung einer »linken Volkspartei« zu arbeiten. »Nun tritt er zurück, und flüchtet aus den Ruinen, ohne darüber vorher die Führung seiner Partei geschweige denn die Mitglieder auch nur zu informieren.«

Dass die USP-Führung und nun die große Mehrheit der Kongressdelegierten dabei assistieren, beweise nur, »dass die Sozialistische Partei jede organisatorische Verankerung innerhalb der breiteren Gesellschaft verloren hat und in bedeutendem Maße die Beute von Geschäftsbeziehungen, Unternehmern und kleinkarierten Karrieristen, eine Gefangene also der sogenannten Selbsterhaltungspolitik geworden ist.«

Noch dazu sei diese Zentrumspartei, so kritisiert Krausz weiter, nicht einmal in der Lage, die Interessen der demokratischen Republik konsequent zu verteidigen. In Ungarn können »neofaschistoide politische und paramilitärische Gruppierungen im Zeichen nazistischer Propagandathesen und mit Unterstützung der Staatsanwaltschaften und Gerichtshöfe (!) legal tätig sein«.

Krausz schließt seine Erklärung mit der Feststellung, dass der Moment des Abtritts von Gyurcsány zugunsten einer offen Kapitalinteressen vertretenden Expertenregierung der historische Moment zum »korrekten Bruch« ist – »gerade im Interesse der Erneuerung der ungarischen Linken«.

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