Einer flog über den Festungswall

Die Ausstellung »Islands and Ghettos« in der NGBK und im Kunstraum Kreuzberg

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Fotografin Carey Young setzt ihren Körper in Relation zu ausufernder Architektur.
Die Fotografin Carey Young setzt ihren Körper in Relation zu ausufernder Architektur.

Ein seelenloses Monster nimmt die Besucher in Empfang. Wie ein Gesicht ohne Augen, dennoch mit hypnotischem Blick, starrt das großformatige Foto des Venezolaners Alexander Apostol die Gäste der aktuellen Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) an. Dabei zeigt das Bild eigentlich nur ein Gebäude und es dauert einen Moment, bis man sich bewusst wird, was daran so irritiert: Apostol hat bei den abgebildeten Häusern sowohl aus den Elends-, als auch aus den Reichenghettos von Caracas digital sämtliche Fenster und Türen entfernt – und so beunruhigende Objekte von seltener Feindschaft geschaffen. »Geh weiter, Fremder. Du bist hier nicht willkommen«, scheinen sie zu zischen.

Apostol ist einer von über 30 Künstlern, die der Heidelberger Kunstverein zu der großen Gruppenausstellung »Islands and Ghettos« über »territoriale Segregation in Städten des 21. Jahrhunderts« versammelt hat, die noch bis zum 26. April gleichzeitig in der NGBK und im Kunstraum Kreuzberg / Bethanien gezeigt wird.

In unserer scheinbar so grenzenlos globalisierten Welt, in der Warenströme mühelos über alle Nationen hinweg den Globus umrunden, haben sich längst neue Mauern gebildet, so die Ausstellungsthese: Diese trennen innerhalb der Städte die verschiedenen Kasten voneinander ab. Die Reichen leben heute ebenso in Ghettos gepfercht wie ihre – natürlich erheblich bedauernswerteren – armen Mitmenschen. Der alte Slogan von der Grenze, die nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten verläuft, erhält hier theoretische Unterfütterung. Sieht man die Welt als Globales Dorf, wären die EU und die USA natürlich die hochgerüsteten, paranoiden Villenviertel.

Der hoffnungsvollste und unterhaltsamste Beitrag der Exposition ist das Video »Balla Perdida« des mexikanischen Aktionskünstlers Javier Téllez. Mit Psychiatrie-Insassen inszenierte er 2005 eine Zirkusprozession durch Tijuana, einer Grenzstadt zu den USA. An den Befestigungen angekommen, zelebrierten die als Mexikaner und psychisch Kranke doppelt Ausgeschlossenen eine seltene Verhöhnung des Sicherheitswahns der USA: Die »menschliche Kanonenkugel« David Smith ließ sich vor den Augen der bis an die Zähne bewaffneten, hier aber ausnahmsweise machtlosen Grenzsoldaten über den haushohen Festungswall auf die US-Seite schießen.

Neben Lateinamerika liegt der Fokus der Schau auf der arabischen Stadt Dubai, die im Zuge des Öl-Booms seit den 70er Jahren eine Urbanisierung im Zeitraffer durchlebt hat – vom Fischerdorf zur Hochhaus-Metropole. Die in London lebende Künstlerin Carey Young setzt auf ihren Fotos ihren Körper mit den ausufernden Mega-Bau-Projekten in Relation: Der Mensch wird hier zur störenden Nebensache, wird förmlich erdrückt von den Geistern, die er selber in den Wüstensand rief.

Fotos, Videos, Malerei, Installationen, soziologische Hörspiele – trotz teils etwas liebloser Präsentation und mancher konzeptioneller Unschärfe ist die zweigeteilte Ausstellung ein vielschichtiger, inspirierender Kommentar auch zur Situation und Zukunft Berlins. Schließlich ziehen sich auch nach dem Fall der Mauer zahllose alte und neue, sichtbare und unsichtbare Grenzen durch die Stadt.

Bis 26. April, www.ngbk.de

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