Mit der Bibel als Grundbuch

In Jerusalem sollen für einen Park 88 Häuser weichen – palästinensische Häuser

  • Max Böhnel, Jerusalem
  • Lesedauer: 5 Min.
Etwa 45 000 Menschen, fast alle Palästinenser, wohnen in Silwan, einem Stadtteil des 1967 von Israel besetzten arabischen Teils von Jerusalem in unmittelbarer Nähe der Klagemauer. Jetzt sollen dort 88 Häuser mit insgesamt 1500 Bewohnern abgerissen werden, um Platz für einen Archäologiepark zu schaffen. Die Betroffenen wehren sich.

Morgens um acht frisst sich die grelle Frühjahrssonne außerhalb der Jerusalemer Altstadtmauern gnadenlos in den Südhang von Silwan. Zwischen den bescheidenen Häuschen aus Schlackebeton, die sich den steilen Hügel hinaufziehen, räkeln sich zerzauste Katzen. Die Düfte und Essenzen einer Heiligen Stadt lässt dieser Teil Jerusalems vermissen. Die städtische Müllabfuhr scheint den Ort zu umfahren.

Gegenüber dem Protestzelt, in dem sich gegen Mittag palästinensische Männer einfinden werden, zerren verwilderte Hunde an Knochen herum, die sie sich aus dem herumliegenden Müll geholt haben. Kein Schild weist auf die Existenz Silwans unterhalb der jüdischen Klagemauer und der muslimischen Al-Aqsa-Moschee hin. Und doch leben hier rund 45 000 Palästinenser.

Schlaftrunken blinzelt der 33-jährige Jamal Abu Chalil in die Sonne und schlürft an seinem Kaffee. »Sie kriegen uns hier nicht weg«, sagt er. Vor ein paar Tagen war der Familie von irgendjemand ein Abrissbefehl über das Hoftor geworfen worden. Das Schlimmste kann jede Minute erfolgen – wenn plötzlich israelische Polizisten mit Megaphonen vor dem Haus stehen und zum Packen von Hab und Gut auffordern, dahinter ein Bulldozer mit laufendem Motor, bereit, das Familienhaus innerhalb einer Stunde dem Erdboden gleichzumachen, bewacht von schwer bewaffnetem Militär.

Die Vertreibung – eine Verwaltungsmaßnahme

Die Bilder kennt jeder Palästinenser. Seit der Besatzung des Gaza-Streifens, des Westjordanlands und Ost-Jerusalems vor nunmehr 42 Jahren haben die israelischen Behörden Tausende von palästinensischen Familien obdachlos gemacht. Drei Arten der Häuserzerstörung werden angewandt: als »operativer Eingriff« bei einer Militäraktion, als »Vergeltungsmaßnahme« und Kollektivstrafe für eine ganze Familie sowie als »Verwaltungsmaßnahme«.

Letzteres ist in Silwan der Fall. Wird der Plan umgesetzt, dann handelt es sich um die größte Zwangsräumung in Ost-Jerusalem seit dem Juni-Krieg 1967. Denn die Chalils sind nicht die einzigen, die befürchten müssen, demnächst vor einem Trümmerhaufen zu stehen. Auf der Liste der Jerusalemer Stadtverwaltung stehen 88 Familienhäuser mit rund 1500 Bewohnern, die zwangsgeräumt werden sollen. Der Grund: »illegal errichtet«. Der Hintergrund: Die palästinensischen Familien von Silwan stehen einem Historienpark namens »Ir David« (»Davidsstadt«) im Weg. Das Projekt wird seit Jahren von der nationalistisch-religiösen Siedlergruppe »Elad« betrieben.

Einige hundert der jüdischen Fanatiker haben in Silwan bereits triumphierend die israelische Fahne in Siedlungen gehisst, die sie Palästinensern mit Hilfe der Behörden mit Tricks und unter Drohungen »legal« abgenommen haben. Unter Silwan befindet sich angeblich der Palast König Davids, der laut Bibel an diese Stelle die Bundeslade gebracht haben soll. Was in dem ominösen Buch steht, nehmen die religiösen Fundamentalisten für bare Münze – die Bibel als Grundbuch.

Unterstützt werden die Siedler, die sich erstmals 1991 in Silwan niedergelassen haben, von den Jerusalemer Stadtbehörden und von der staatlichen Altertumsbehörde. »Elad« fungiert als schwer zu durchschauende Organisation, finanziert von reichen Spendern in den USA und Russland. Der neue Jerusalemer Bürgermeister Nir Barkat gibt nicht einmal vor, sich für die Interessen der palästinensischen Minderheit einzusetzen. Er sei ein Anhänger von »Ir David«, beteuert er immer wieder und vergleicht das Projekt absurderweise mit dem Central Park in New York.

Ein Protestzelt gegen die Abrissbagger

Aus dieser Sicht stehen die Palästinenser der »Davidsstadt«, der »Modernisierung« und »dem Tourismus« wie lästige Hürden entgegen. Dass viele der Wohnhäuser, die er abreißen lassen will, »illegal« errichtet wurden, ist formal richtig. Aber »illegal« zu wohnen ist für einen Teil der palästinensischen Bevölkerung Ost-Jerusalems mangels Alternativen die einzige Möglichkeit. Denn die Jerusalemer Stadtverwaltung weigert sich seit 1967, für die meisten arabisch bewohnten Viertel einen Bebauungsplan zu erstellen. Dies hieße, Nicht-Juden ein Dauerrecht auf die »ewige Hauptstadt« einzuräumen und auf jüdische Besiedlung zu verzichten. »Zionismus in Aktion« nennt Jamal Abu Chalil die Wohnungspolitik in Jerusalem. Im März waren in Silwan bereits die ersten Abrissbagger angerückt und hatten das Haus der Abasi-Familie zerstört. Die Eltern und die Kinder leben seitdem in einem Behelfszelt neben der Ruine.

Das Protestzelt ist mit Plastikstühlen, geographischen Karten und Slogans an den Wänden ausgestattet. Auf arabisch, englisch und hebräisch heißt es »Keine Brandstiftung in Jerusalem« und »Rettet Silwan«. Immer wieder laden die Silwaner Vertreter ausländischer Konsulate ins Zelt ein, die dann auch erscheinen und sich aufklären lassen. Hin und wieder lassen sich auch Knesset-Abgeordnete von linken und arabischen Parteien blicken. Ein Hoffnungsschimmer ist die neue USA-Regierung. Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete die Häuserzerstörung bei ihrem Nahostbesuch als »eindeutig nicht mit den Pflichten vereinbar, wie sie in der Roadmap festgelegt sind«.

Unterdessen treffen an der archäologischen Siedlungsstätte die ersten Touristenbusse ein. Eine Gruppe italienischer Volksschullehrer, die soeben ausgestiegen ist, lässt sich von einer jungen israelischen Reiseführerin über »Ir David« aufklären: »Zweites Buch Samuel: David eroberte Jerusalem mit den Seinen von den Jebusitern, daraufhin erbaute Hiram von Tyros dem jüdischen König in der Stadt einen prachtvollen Palast.« Die Reiseführerin lässt allerdings unerwähnt, dass die Herkunft der gut 1,80 Meter dicken Mauersteine, die sie vorführt, umstritten ist.

Aber in Ost-Jerusalem geht es den Israelis nicht um Wissenschaft, sondern um Siedlungspolitik – »in der einen Hand die Schaufel, in der anderen die Bibel«, wie Jamal Abu Chalil sagt.

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