Sozialdemokratische Zivilcourage

Vor 75 Jahren erschien der 1. Deutschlandbericht der SOPADE – Stimmen aus dem Reich

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit dem Datum des 17. Mai 1934 erschien in Prag, herausgegeben vom Exilvorstand der deutschen Sozialdemokratie (SOPADE), ein vielseitiger gedruckter Bericht über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland und die Stimmung unter den Deutschen. Damit begann die Geschichte eines Periodikums, das die Vertreibung der Parteizentrale aus der Tschechoslowakei überstand und in Frankreichs Hauptstadt forterschien, bis die Eroberung des Landes durch die Wehrmacht im Mai/Juni 1940 dessen Einstellung erzwang. Zuständig für sein Erscheinen war Erich Rinner, ein promovierter Nationalökonom, der seine Fachkenntnisse in der Sozialdemokratie eingesetzt und in ihr Karriere gemacht hatte. Rinner entkam 1940 in die USA. Er trug dort im Office of War zum Kampf gegen Nazideutschland bei, sagte jedoch der Politik Valet und stieg als Mitarbeiter und Teilhaber einer Investmentbank auf.

Die Deutschland-Berichte, wegen der Farbe des Papiers, auf dem sie hergestellt wurden, auch »Grüne Berichte« genannt, kamen anfangs im Abstand von zwei Monaten, später einmal im Monat heraus. Sie liegen seit 1980 in einer sieben kleinformatige Bände umfassenden Sammlung vor und bilden eine unentbehrliche, vergleichsweise zu wenig benutzte Quelle für die Geschichte der Nazidiktatur, vorzugsweise für die Beantwortung von Fragen, die sich auf die Beziehungen von Führung und Massen und deren konstitutive Faktoren richten. Der Blick der Beobachter und Informanten galt vor allem den gewandelten Lebensverhältnisse und deren Wirkungen auf das Denken und Verhalten der arbeitenden Klassen und Schichten.

Freilich, die SOPADE-Berichte fußten auf Mitteilungen, deren Herkunft heute im Einzelnen nicht überprüft werden können. Bei deren Verwendung in der Parteizentrale musste stets in Rechnung gestellt werden, dass keine eindeutigen Rückschlüsse auf ihren Ursprung zu ziehen sind. Manche eingehenden Texte wurden auch ausdrücklich mit dem Vermerk versehen, dass sich ihre öffentliche Nutzung verbot. Sodann ist zu bedenken, wie groß der gesellschaftliche Aktionsradius war, aus dem im Reich lebende Sozialdemokraten Eindrücke beziehen konnten. Noch im letzten Bericht aus dem ersten Kriegsjahr wurde geschrieben: »Es ist schwer, die wahre Meinung der Menschen zu erkennen, weil die Angst vor dem Zuchthaus oder dem Konzentrationslager den meisten den Mund verschließt.«

Jedoch: Vergleiche mit anderen Überlieferungen, mit Informationsberichten aus den Apparaten des Staates, der NSDAP und ihrer Gliederungen, Tagebüchern von Zeitgenossen, Aufzeichnungen in Deutschland akkreditierter ausländischer Korrespondenten u. a. lassen keinen Zweifel am hohen Quellenwert dieser Berichte. Sie geben über ihren eigentlichen Zweck hinaus ein Bild vom Dasein und dem gedanklichen und emotionalen Befinden von Sozialdemokraten im Reich, die ihren Ideen, Grundsätzen und ihrer Partei die Treue hielten. Das zeichnete bereits die erste Lieferung der Berichte aus, deren Basis Meldungen bildeten, die im zeitigen Frühjahr 1934 gesammelt worden waren, einer Zeitspanne, in der das Regime das erste Mal in eine vielgefächerte Krise geriet.

Die sich in die Gefahr begaben, den Exilvorstand mit Nachrichten zu beliefern, wünschten nichts mehr als die Kurzlebigkeit der Diktatur. Folglich interessierte sie vor allem der Grad der Stabilität, den das Regime im Volke besaß. Das Urteil aus den verschiedensten Gegenden des Reiches darüber war im April 1934 einhellig. Es vollziehe sich ein »allgemeiner Stimmungsumschwung«. Dessen Basis seien weit verbreitete Ernüchterung und Enttäuschung, die ihre Wurzel in den vielen, nun als leer erwiesenen Versprechen hätten, mit denen die NSDAP angetreten war. Dann äußerten sich die Autoren zu den Perspektiven dieses Wandels, hielten sich aber allesamt mit optimistischen Prognosen zurück. Zum einen erstrecke sich die inzwischen auch öffentlich geäußerte Kritik nicht auf Hitler, sondern nehme ihn ausdrücklich aus. Sie richte sich gegen unfähige Bonzen auf unteren und mittleren Ebenen des Nazistaates. Es fehle, wurde konstatiert, der Kritik an politischem Tiefgang. Sie verbinde sich mit keinerlei Vorstellung, was an die Stelle des Systems treten solle, das sich etabliert hatte, und welcher Weg in neue Zustände führen könnte.

Schon dieser erste, im Mai erschienene Bericht mit Abschnitten über die »Allgemeine Stimmung«, zur »Arbeitsschlacht«, »Aus den Betrieben«, zur »Sozialpolitik und Spendenwirtschaft« sowie weiteren zur Lage der Gewerbetreibenden, der Landwirtschaft und der Rüstungsindustrie war für alle, die sich für die Situation im Reich interessierten, eine Fundgrube. Sie ließen Schlüsse darauf zu, was von diesem Deutschland unterm Hakenkreuz zu erwarten war. Und eben das sollten die Berichte, denn sie waren nach ihren Herausgebern bestimmt, »das Interesse der maßgebenden sozialistischen Kreise in der Welt an den Vorgängen in Deutschland und an unserer Arbeit dauernd wach zu halten«. Darauf zielte auch eine beigefügte Studie über Deutschlands Aufrüstung und Militarisierung.

Die Startausgabe war auch für die Lieferanten der Meldungen bestimmt. Sie konnten sich vom Nutzen ihrer Arbeit überzeugen und lasen im Abschnitt »Kritische Bemerkungen« Vorschläge, auf welche Informationen der Exilvorstand Nachdruck legte. Gewünscht waren Sammlungen von »Einzeltatsachen« und Beschreibungen von Situationen und Ereignissen mit exakten Angaben von Zeiten und Orten. Weniger Interesse bestand an allgemeinen Schlussfolgerungen und Kommentaren, mit denen die Autoren, häufig auf nur begrenzter Tatsachenbasis fußend, ihre Berichte versahen und manchmal spickten.

Und natürlich waren die Prager Endautoren, wollten sie ein Gesamtbild herstellen, darauf angewiesen, möglichst Nachrichten aus allen Teilen des Reiches zu erhalten. 1934 war die Dichte der Berichterstattung höchst ungleichmäßig. Die meisten Eingänge stammten aus Sachsen und Bayern, eine Tatsache, die auch der Nähe dieser Gebiete zur Tschechoslowakei geschuldet sein mochte. Daran schlossen sich dann die aus Berlin an.

Hatten die Berichterstatter sich von Ansichten über ein nahe bevorstehenden Ende des Regimes auch distanziert, so dürfte doch kaum einer geglaubt haben, dass dieses sich noch sechs Jahre später in Europa behauptet haben würde und sie dann ihre Rolle als Informanten noch immer spielen würden. Die Urteile über den inneren Zustand Deutschlands, die sich im letzten SOPADE-Bericht vom April 1940 finden, sind treffend. Die übergroße Mehrheit der Deutschen, hieß es darin, ist vom eigenen militärischen Sieg fest überzeugt und hat zugleich keine Vorstellung davon, was ihr in diesem Krieg noch bevorstehen könnte. Auf Stimmungswandel sei nur zu hoffen, wenn es zu einer militärischen Schlappe käme, zum Angriff der Gegner über den Rhein oder zum Luftkrieg über deutsche Städte. Sonst hingegen werde es den Machthabern gelingen, die Deutschen wie bisher einigermaßen bei guter Laune zu halten.

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