Der Bart ist nicht ab

In Trier wollen Studenten die Universität nach einem Sohn der Stadt benennen – Karl Marx

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Andreas Berding
Andreas Berding

Trier gilt als Deutschlands älteste Stadt. Sein Universitätskomplex dagegen ist ein Kind der 1970er Jahre und damit bundesweit einer der jüngsten. Von Architekten am Reißbrett entworfen, am Rande der Moselstadt erbaut, betreten wir einen modernen Campus. Korrekt gesagt, ist es der Campus I, den wir an diesem Tag aufsuchen – er beherbergt die Geistes-, Sozial-, die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaften. Hörsaal- und Seminargebäude, Bibliothek und Audimax, Mensa, kleine Cafés und Bistros bilden ein Städtchen in der Stadt. Der blaubehimmelte Frühlingstag setzt es in ein freundliches Licht: Wege, die mal hügelan, dann wieder hügelab führen; dazwischen Bäume, blühende Sträucher, Rasenflecken, auf denen Gänseblümchen, Butterblumen und Löwenzahn einen dichten Flor bilden. Eine Treppe fällt ab zum Uni-See, dahinter die Uni-Liege- wiese ...

Überall – auf Wegen, Plätzen und Treppen – sind Studentinnen und Studenten unterwegs von A nach B oder nehmen ein kurzes Sonnenbad. Sie tragen Rucksäcke, beißen noch schnell in ein Brötchen, eilen zur nächsten Vorlesung, rauchen Kette, lesen in Aufzeichnungen. So ein Frühlingstag ist freilich auch geeignet, selbst Fremden schlagartig zu zeigen, wie es aussieht, wenn eine Uni quasi aus allen Nähten platzt: Für 7000 Studierende ausgelegt, wird sie längst von doppelt so vielen bevölkert.

Wie finden wir zum Studi-Haus? So heißt das Haus der Studierenden, in dem der AStA sein Domizil hat. Dort sind wir verabredet. »Welches Haus?« »Sorry, keine Ahnung!« »Da vorn hängt ein Campus-Plan. Schauen Sie am besten mal drauf.« Trotz überfüllter Seminare scheint der Allgemeine Studierendenausschuss keine zentrale Adresse zu sein. Man kann sich wundern oder nicht. Je nach Geldbörse und Interessenlage oder auch nach dem Grad der Enttäuschung von jedweder Interessenvertretung macht nicht nur freitags nach eins jeder seins. Warum sollte es in der kleinen Welt anders als in der großen sein?

Mit Hilfe des Lageplans haben wir das Haus gefunden. Über dem Eingang jenes Schild, das unpassend wie ein Paukenschlag in ein beschauliches Heimatlied einfällt: Wir sehen das Konterfei von Karl Marx und den frechen Namenszug, der uns mitteilt, dass wir zu Gast in der »Karl-Marx-Universität« sind. Im letzten Dezember beschloss das StuPa, das Studierendenparlament, die Uni Trier in »Karl-Marx-Universität« umzubenennen. Ein Aufschrei ist zu erwarten gewesen. Die Öffentlichkeit hat sich darauf geeinigt, den Vorgang nicht wirklich ernst zu nehmen. Zwar sei Karl Marx der berühmteste Sohn der Stadt, doch dichtauf in der Beliebtheitsskala folge Schlagerflaps Guildo Horn, ebenfalls in Trier geboren. Was die Spaßfraktion zu dem Schluss kommen ließ, auch Horn sei ein möglicher Namensgeber. So viel gönnerhafte Gelassenheit gegenüber dem StuPa-Beschluss lässt vermuten, dass dieser chancenlos ist. In der Tat fällt er kaum ins Gewicht. Uni-Präsident Dr. Peter Schwenkmezger teilte unmissverständlich mit, der Name der Universität sei im Hochschulgesetz des Landes geregelt. Er sehe keine Veranlassung, den Namen »Universität Trier« zu ändern.

Im Studi-Haus erwarten uns Florian Kaiser und Lucas Dembinsky, ihres Zeichens AStA-Sprecher. Aber so nennen sie sich nicht, sondern Koordinierende Mitglieder: »um die Hierarchie rauszunehmen«. Freitags nach eins macht jeder seins – für Kaiser und Dembinsky gilt das nicht. Sie sind der festen Überzeugung, dass »Studis« ihre Sache vertreten müssen – wenn nicht sie, wer täte es sonst? Beide lassen keinen Zweifel, dass das Studierendenparlament es mit seinem Vorstoß ernst meint. Schon sind AStA-Briefbögen mit dem Kopf »Karl-Marx-Universität« gedruckt, im AStA-Shop gibt es Marx-T-Shirts, rote Tassen und Kugelschreiber mit dem Bildnis des bärtigen Denkers: »Uns ist klar, dass wir keine Bestimmungshoheit über den Namen der Uni besitzen. Trotzdem haben wir uns entschlossen, den Namen ›Karl Marx‹ zu führen. Im Verständnis des StuPa sind die Uni nicht der Präsident, nicht das Ministerium, sondern auch wir Studenten und Lehrer. Und wir sind ganz klar in der Mehrheit.«

Dembinsky ist Sohn eines Arztes und katholisch. Er studiert im zehnten Semester Germanistik, Geschichte und Gender Studies. Germanistik und Geschichte sind die Fächer, die ihm in der Schule am meisten Spaß gemacht haben, weil er gute Lehrer hatte. Jetzt will er selbst Lehrer werden oder eine Uni-Laufbahn einschlagen. Zu der Sache, die »Studis« vertreten müssen, gehört für ihn auch die Namenswahl. Für Karl Marx spreche, »dass er nun mal der ausgewiesenste Trierer ist, eine historische Person mit wissenschaftlichen Leistungen, die die Geschichte der Philosophie und der Politik mehr als ein Jahrhundert lang prägte«. Wer Marx heute kritisiere, weil er die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellte, nehme »die historische Folie raus«: Er habe die Gesellschaft so gesehen, »wie sie damals war und vielleicht heute noch ist«. Dembinsky: »Wenn man Marx runterbricht, geht es um den emanzipierten, kritischen Menschen. Darum, dass emanzipierte Menschen die Verhältnisse nicht als gegeben hinnehmen, sondern als von Menschen gemacht. Solche Persönlichkeiten zu erziehen, sollte eine Uni leisten.«

Ähnlich argumentiert Florian Kaiser. Schon bei Gründung der Universität hätten Professoren und Studentenvertreter für den Namen »Karl Marx« plädiert. Ob es heute noch Lehrkräfte gibt, die für diesen Namen eintreten, das weiß er nicht – er kennt keine. Damals wie heute sei der Versuch, den großen Sohn der Stadt zu ehren, aus den gleichen Gründen gescheitert: »Trier und seine Bürger«, sagt Kaiser, »rühmen sich nicht mit Karl Marx. Sein Geburtshaus wird mal von Chinesen besucht, aber die Trierer meiden es. Die Trierer sind urkonservativ. Im Land« – er spricht von Rheinland-Pfalz, das der gestürzte SPD-Chef Kurt Beck regiert – »spielen konservative Parteien keine Rolle, in der Stadt verhält es sich anders. Der Einfluss der Kirche ist relativ groß, die Gegend überwiegend ländlich, es gibt kaum kulturellen Austausch. Konservatismus und Marx schließen einander aus. Was Marx' Leistungen betrifft, sieht man nur, was daraus gemacht wurde.« Wissenschaftliche Theorien seien immer »sehr radikal«, so radikal würden sie selten umgesetzt, »oder nur von gewissen Gruppen«.

Kaiser stammt aus Würzburg und studiert im vierten Semester Psychologie. Sein Ziel: einmal als Psychoanalytiker zu arbeiten. Doch nicht in Trier, nicht in der Provinz! Ein Studium in der Hauptstadt Berlin, das wäre es für ihn gewesen: eine »tolle, abwechslungsreiche Stadt, die jedem Lebensstil aufgeschlossen gegenübersteht«. Kaiser ist Mitglied bei den Grünen und im Studierendenparlament. Dort sind alle Hochschulgruppen vertreten – die Jusos und die Grün-Orangenen, der Ring Christlich Demokratischer Studenten, die Unabhängigen Liberalen und andere. Kaiser hat natürlich für die Grün-Orangenen kandidiert. Sie »regieren« derzeit an der Seite der Jusos, die anderen sind »Opposition«. Ein bisschen ist es wie im Bundestag.

Wenig später gesellen sich Rico Herzog und Andreas Berding zu unserer Runde. Sie sprechen für diejenigen, die sich strikt dagegen wenden, die Uni Trier in »Karl-Marx-Universität« umzubenennen. Rico Herzog studiert auf Magister im sechsten Semester Politik und Öffentliches Recht. Seine Heimatstadt ist Dresden. Was sucht er so tief im Westen? Er sagt, wer sich weiterentwickeln wolle, müsse seiner angestammten Umgebung irgendwann den Rücken kehren, um neue Eindrücke zu sammeln und sich neuen Problemen zu stellen. Er hatte ein Grunderlebnis: Als Knirps – er war gerade vier – saß er auf den Schultern des Vaters auf dem Dresdener Hauptbahnhof, als die Züge mit den Menschen, die die DDR verließen, an ihnen vorbeifuhren – die Eltern waren mit ihm soeben von einem FDJ-Treffen heimgekehrt. Es gibt Erlebnisse, die ein Leben verändern: Rico Herzog bekennt sich heute »zur Freiheit«, in seinem Verständnis zur FDP.

Mit dem Namen »Karl Marx« verbindet Herzog ein »persönliches Problem«: »Die meisten Leute, die ich kenne«, erklärt er, »wollen am Ende ihres Studiums nicht mit einem Abschluss rumlaufen, auf dem ›Karl-Marx-Universität‹ steht.« Er könne sich zwar vorstellen, dass ein einzelnes Institut der Uni diesen Namen trägt, »das würde bestimmt auch Leute anziehen«. Aber die Uni insgesamt sollte sich nicht darauf festlegen. Er selbst würde sich »statt mit so einem Abschluss lieber mit dem Abi-Zeugnis bewerben« – damit hätte er bessere Chancen.

Andreas Berding hat sein Studium in Politik und Volkswirtschaftslehre als Magister abgeschlossen, jetzt will er das VWL-Diplom. Er ist in Hamm, Westfalen, zu Hause, und Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seine Einwände gegen den Namen »Karl Marx« sind ebenso bedenkenswert wie die Fürsprachen Kaisers und Dembinskys. Marx' Leistung sei »extrem umstritten«. Indem Marx die Eigentumsfrage stellte, habe er in seiner Theorie das »autoritäre Moment« angelegt. Zwar habe er »viele Missstände seiner Zeit aufgedeckt und analysiert«, doch »eine universelle Wahrheit«, wie Marx sie gefunden zu haben meinte, halte er immer für gefährlich. Die Folgen, »wie in der DDR und in Russland«, sind für ihn keine »positive Utopie«. Gewiss, eine positive Utopie sei vor allem dieser Tage auch im heutigen System schwer zu erkennen. Da halte er es aber mit Churchill, der die Demokratie zwar als »die schlechteste Staatsform, doch als die beste, die wir kennen« bezeichnete. Er macht das an einem Beispiel fest: Niemand bestreite die Notwendigkeit des Geldes. Seit seiner Erfindung habe man viel über das Geld lernen müssen: Es gibt Inflationen, es kann gefälscht werden. »Es abzuschaffen, erwägt keiner. Selbst in Russland gab es Geld. Was für das Geld gilt, kann man auch für die freie Marktwirtschaft sagen. Freie Märkte sind die Grundlage der Gesellschaft.«

Berding wirft die Frage auf, ob der StuPa-Beschluss tatsächlich die Mehrheit der Studenten repräsentiert. Zuletzt lag die Wahlbeteiligung für das Studierendenparlament bei 11,8 Prozent – keine demokratische Glanzleistung. Ein Votum für oder gegen den Namen »Karl Marx« habe es bisher nicht gegeben: An einer Abstimmung müssten sich 20 Prozent der Studierenden beteiligen. Damit könne das StuPa nicht rechnen. Weshalb die Befragung bislang ausblieb. »Es hat kein Recht, die Uni nach Karl Marx zu benennen.«

Und noch etwas stört Andreas Berding: Solange sich StuPa und AStA mit dem »Nebenschauplatz Marx« beschäftigten, würden sie das vernachlässigen, was ihre ureigene Aufgabe sei: Hochschulpolitik zu betreiben. Das lassen Kaiser und Dembinsky nicht gelten. Für den AStA sei die Namensdebatte keineswegs von zentraler Bedeutung, und er habe auch kein Interesse an einer PR-Kampagne. In die Medien sei der Diskurs erst durch eine Stellungnahme der Jungen Union gelangt – ein Ablenkungsversuch der »Opposition«. Dem man nicht auf den Leim gehe, denn man verliere sich nicht auf dem »Nebenschauplatz«, sondern konzentriere sich auf die politische Arbeit.

Womit sie bei konkreter Hochschulpolitik sind. Die Novellierung des Landeshochschulgesetzes stehe unmittelbar bevor. Sie sehe vor, die demokratischen Gremien an den Unis zurückzudrängen, die Präsidien dagegen zu stärken. Auch bei gewaltfreien Streiks sollen künftig Exmatrikulationen drohen, der Einfluss der Wirtschaft auf Lehre und Forschung soll steigen. StuPa und AStA nähmen all das eben nicht als gegeben hin. Lucas Dembinsky jedenfalls will eine »objektive Ausbildung« erfahren: »Wenn die Wirtschaft die Inhalte bestimmt, geht das Kritikpotenzial verloren.« Schon die Bachelor- und Masterabschlüsse, eingeführt im Bologna-Prozess, würden sich als problematisch erweisen. Denn die Bachelor-Studiengänge, »zurechtgestutzt auf die Wünsche der Wirtschaft«, seien vielleicht eine Option für Naturwissenschaftler, nicht aber für Geisteswissenschaftler: »Wir brauchen nicht nur Grundwissen, sondern eine gewisse Reife. Der Bachelor, der ja eigentlich ein berufsqualifizierender Abschluss sein soll, entlässt die Studierenden ohne die nötigen Kompetenzen.« Dies seien nur einige der Themen auf der Agenda von STuPa und AStA. Weit vorn stünde die Überbelegung der Uni. Rico Herzog erzählt, fast käme es zu Prügeleien um die Seminarplätze. Viele Studis könnten ihr Studium nicht in der vorgegebenen Zeit abschließen, weil sie wegen Überfüllung aus den Vorlesungssälen flögen – darum kümmere man sich zur Zeit: Marx könne da auch nicht helfen.

Draußen, vor dem Studi-Haus, verabschieden sich die Kontrahenten. »Wir stehen zu Marx«, sagt Dembinsky. Herzog sagt mit breitem Grinsen: »Und wir halten immer schön dagegen!« Am Abend werden Dembinsky und Herzog sich bei der »Börsenparty« der BWLer treffen: Je gefragter ein Getränk, desto höher steigt sein Preis. Je länger der Diskurs über Marx geführt wird, desto höher vielleicht auch sein Marktwert. Einer alten Stadt kann es nur gut tun, eine junge Uni zu haben.

Roxana Fuks im AStA-Shop
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