nd-aktuell.de / 22.05.2009 / Kommentare / Seite 14

Partizipation der Eliten

Andreas Fisahn
Partizipation der Eliten

Taugt das Grundgesetz für eine emanzipatorische Gesellschaft? Die Antwort kann nach Radio Eriwan nur lauten: »Im Prinzip ja, wenn da diese Gesellschaft nicht wäre.« Das Grundgesetz (GG) ist im Prinzip die Verfassung Deutschlands, die mit 60 Jahren die längste Geltungsdauer für sich verbuchen kann. Aber das hätte sie eigentlich nicht sein dürfen, wenn sich diese Gesellschaft an den Wortlaut des GG gehalten hätte. Das Grundgesetz sollte außer Kraft treten, wenn sich das Volk mit der Einheit Deutschlands eine neue Verfassung gibt. Das wäre vor zwanzig Jahren gewesen.

Beschlossen werden sollte eine Verfassung vom Volk. Nun hält Art. 146 GG fest, dass das GG »nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk« gilt. Das ist gut, denn es beinhaltet einen Verzicht auf weitere deutsche Gebietsansprüche. Aber wenn die Einheit vollendet ist, hätte das Volk abstimmen müssen. Die regierende Elite misstraut dem Volk – die demokratischen Exilanten misstrauten 1949 dem nazistisch verseuchten Volk und die bürgerliche Elite misstraute 1989 einem Volk im demokratischen Aufbruch. Man verzichtet auf einen Gesellschaftsvertrag, dem jedermann seine Zustimmung geben muss.

Der Makel der Entstehung wirkt fort: Das Grundgesetz enthält – anders als alle Landesverfassungen – keine Vorschriften für eine Volksgesetzgebung. Demokratie ist nach dem Grundgesetz nur repräsentative Demokratie. Die Juristen machen daraus: die Legitimation von Herrschaft durch Wahlen. Das Volk glaubt, Demokratie sei der Versuch, Herrschaft aufzuheben. Diese Meinung ist aber bisweilen stärker als die Dogmatik der Juristerei: Denn natürlich gibt es gesellschaftliche Partizipation z. B. durch Mitbestimmung, Rundfunkräte oder »konzertierte Aktionen«. Korporative Demokratie gibt es neben dem Grundgesetz – dieses verbietet sie ja nicht. Es regelt sie aber auch nicht; so kann sie zurechtgestutzt werden zur Partizipation der Eliten.

Das Grundgesetz enthält – anders als alle Landesverfassungen – keine sozialen Grundrechte, etwa das Recht auf Arbeit, Wohnen oder Bildung. Aber es enthält das Sozialstaatsprinzip. Das wurde erst klein geredet zum Staatsziel. Aber auch als Staatsziel gab es einen Anspruch auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum her, das die Obergerichte in den goldenen Jahren des Sozialstaates großzügig auslegten. Aber die Rechtsprechung wandelt sich: Urteile gegen sozialen Kahlschlag bleiben vereinzelt. Mit der Rechtsprechung wandelt sich die Verfassung.

Das Grundgesetz von 1949 war eine Friedensverfassung. Das hallt wider in Art. 139: »Die zur ›Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‹ erlassenen Rechtsvorschriften« sollten in Kraft bleiben. Deutschland war entmilitarisiert. Das änderte sich mit der Wiederbewaffnung. Die Verfassung ließ durch neue Artikel eine Armee zu – aber eine Verteidigungsarmee. »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf« steht in Art. 87a GG. Aus der Verteidigungsarmee wurde eine Parlamentsarmee, die in Jugoslawien oder jetzt am Hindukusch schießt – angeblich jenseits von Kampfhandlungen.

Umgekehrt steht auch dies seit Langem im Grundgesetz: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Deshalb blieb der Mann doch nach bürgerlichem Recht Jahrzehnte das Familienoberhaupt mit Letztentscheidungsrechten. Der Pater familias muss sich jetzt mit der Quotenregelung in den Gleichstellungsgesetzen herumschlagen – auch ein Wandel im Verfassungsverständnis. Das GG lässt es zu.

Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Die kapitalistische Marktwirtschaft ist nur eine mögliche Wirtschaftsform. Zulässig sind nach dem Grundgesetz auch Vergesellschaftungen wichtiger Industrien und eine demokratische, solidarische Marktwirtschaft – jedenfalls im Prinzip, aber wenn Banken verstaatlicht werden sollen, werden die Verfassungsjuristen und die herrschende Politik zickig. Ein weiterer Wandel ist wahrscheinlich – es kommt darauf an, die Richtung zu bestimmen!

Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jahrgang 1960, studierte Rechts- und Sozialwissenschaften u. a. an den Universitäten Köln, Marburg und Göttingen und ist heute Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt er die LINKE bei ihrer Klage gegen den »Vertrag von Lissabon«. Im März 2008 erschien Fisahns Buch »Herrschaft im Wandel – Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates«.