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Zuchtmeister einer neoliberalen Ausrichtung

  • Leo Mayer
  • Lesedauer: 5 Min.

Europa hat die Wahl, heißt es. Die Bürger der Europäischen Union sind davon nicht überzeugt. Nach Umfragen wird die Wahlbeteiligung am kommenden Sonntag bestenfalls wieder den Negativrekord von 2004 erreichen. Damals waren EU-weit nur 45,5 Prozent der Wähler zur Wahl gegangen. Dies verweist auf ein weit verbreitetes Desinteresse. Zu diesem Desinteresse trägt die auch in linken Kreisen verbreitete Meinung bei, dass das Europäische Parlament völlig einflusslos sei. Zieht man jedoch in Betracht, dass viele der »EU-Gesetze«, die das Leben der Menschen direkt beeinflussen – »Bolkestein«-Richtlinie, Hafen-Richtlinie, Arbeitszeit-Richtlinie etc. – der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedürfen, dann liegt auf der Hand: Das Problem liegt nicht im mangelnden Einfluss, sondern in der Zusammensetzung des Parlaments. Allerdings wird sich an dieser Zusammensetzung wohl nichts Wesentliches verändern. Die in der GUE/NGL zusammengeschlossenen kommunistischen und linken Parteien, die als Einzige für einen Bruch mit der neoliberalen Logik der EU stehen, werden aufatmen, wenn sie ihre Positionen halten können.

Die niedrige Wahlbeteiligung ist aber nicht nur auf »Desinteresse« zurückzuführen, sondern auf den tiefgehenden Frust, den viele WählerInnen gegenüber der EU-Politik empfinden. Sie glauben nicht, dass sie die Wahl über die Entwicklungsrichtung der Europäischen Union haben. Die Kluft zwischen der Politik der EU und dem Wollen und den Hoffnungen der Menschen ist zu groß, um sie noch für dieses Projekt begeistern zu können. Diese Akzeptanzkrise ist ein prägendes Moment der Europäische Union und wird in dem Maße noch weiter zunehmen, wie die Wirtschaftskrise zu wachsender Arbeitslosigkeit und Armut in Europa führt. Die Logik der Pläne der Regierungen und der Europäischen Union bedeuten, dass die arbeitenden Menschen mit ihren Arbeitsplätzen, ihrem Ersparten und ihrer Zukunft für die Krise bezahlen sollen. Dieser Frust ist der Boden, auf dem die extreme Rechte mit ihrer reaktionären EU-Kritik an Einfluss gewinnt.

Die Europäische Union steht wieder einmal an einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Sozialer Zusammenhalt und »freier« Markt erweisen sich als unvereinbar. Die innere Logik der EU-Strategie führt dazu, dass die ökonomisch starken Staaten, vor allem Deutschland und Frankreich, eine dominierende Position einnehmen und den gemeinsamen »freien« Markt konterkarieren. Gerade in Krisenzeiten bürden sie die Lasten den Schwächsten auf. Und so driftet die EU immer weiter auseinander – West von Ost und Nord von Süd. Leistungsbilanzdefizite, Staatsbankrotte, Staaten im Niedergang – ihrer Souveränität beraubt und ohne Legitimation in der Bevölkerung – prägen die heutige EU.

Dreizehn von sechszehn Euro-Ländern werden die Neuverschuldungsgrenze reißen. Da erscheint es lächerlich, wenn die EU-Kommission die Einhaltung des Stabilitätspaktes anmahnt. Aber so werden bereits heute »Agenda 2015« oder »Agenda 2020« vorbereitet. Lettland, Ungarn, Rumänien haben bereits Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und vom EU-Fonds benötigt, um einen Staatsbankrott zu vermeiden. Die Bedingungen: Herunterfahren der öffentlichen Verschuldung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Kürzung der Gehälter der Staatsbediensteten, Abstriche bei öffentlichen Dienstleistungen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. So werden Stabilitätspakt und Krise als Zuchtmeister für die künftige, noch straffere neoliberale Ausrichtung der EU genutzt.

Die EU scheint gelähmt durch eine Politik der Regierungen, der das Denken in nationalen Wettbewerbspakten zugrunde liegt. Die Hüterin des europäischen Binnenmarkts, Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes, hat alle Hände voll zu tun, um nationale Alleingänge einzudämmen. Jedoch entwickeln Kapital-, Waren- und Niederlassungsfreiheit sowie die gemeinsame Währung auch ihre eigene Dynamik. Die Verträge, auf denen die neoliberale Integration beruht, sind wirksam; Europäische Kommission, Europäischer Rat und Ministerrat sind handlungsfähig. Von einer Krise der EU im engeren Sinne kann also noch nicht die Rede sein. Und wenn jetzt selbst Marktradikale für »Verstaatlichung« und nationale Konjunkturprogramme eintreten, dann bedeutet das noch lange nicht eine dauerhafte Abkehr vom Neoliberalismus.

Noch mehr gilt dies für die wirtschaftlich dominierenden Kräfte. Der Einfluss der transnationalen Konzerne und Finanzgruppen ist ungebrochen. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die den Neoliberalismus hervorgebracht haben und die Europäische Union formen, erweisen sich bisher als ausgesprochen stabil. So ist es nicht verwunderlich, dass die Kommission die alten, marktradikalen Strategien fortsetzt. Konjunkturprogramme und staatliche Beteiligungen werden nur für einen befristeten Zeitraum akzeptiert.

Zwar ist die Außenpolitik noch eine nationale Angelegenheit der Mitgliedsländer; virtuell aller EU-Länder, in Realität der Hauptmächte Frankreich, Deutschland, Großbritannien. Aber der fortschreitende ökonomische Integrationsprozess drängt zu einer gemeinsamen Außenpolitik. Die Gipfeldiplomatie zur Eindämmung der Krise des globalen Kapitalismus – G7, G20, usw. – zwingt die Regierungen der EU-Mitgliedsländer zusätzlich zu verstärkter Koordination. Die Krise beschleunigt die Verschiebung und Neuausrichtung der globalen Machtverhältnisse. Man vergleiche nur den G7/8-Gipfel im Jahr 2007 in Heiligendamm mit dem Gipfel, der im April 2009 in London stattfand. Zwar war in Heiligendamm schon klar, dass man an den Schwellenländern, allen voran China und Indien, nicht mehr vorbeikommt. Allerdings wurden diese noch am Katzentisch platziert. Welch anderes Bild knapp zwei Jahre später in London. Nun heißt die Gruppe G20 und zu den acht alten Schwergewichten und der EU haben sich wie selbstverständlich elf Schwellenländer hinzugesellt. So werden künftig selbst die Hauptmächte der EU gezwungen sein, das Gewicht der EU in die Waagschale zu werfen, wenn sie globalen Einfluss geltend machen wollen.

Leo Mayer, Jahrgang 1949, ist stellvertretender Parteivorsitzender der DKP und deren Spitzenkandidat bei den Europawahlen diesen Sonntag. Der Informatiker war stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Siemens in München und ist heute als Mitarbeiter des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) tätig.

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