nd-aktuell.de / 06.06.2009 / Politik / Seite 5

Hartz IV ist ein ungeheuer europafeindliches Gesetz

Oskar Lafontaine über Ambitionen, Akzeptanz und Auseinandersetzungen

Als Oskar Lafontaine 2005 über die WASG zur LINKEN kam, zitierte er gern Victor Hugo: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«. Der 65-Jährige – einst Oberbürgermeister in Saarbrücken, saarländischer Ministerpräsident und SPD-Parteichef – ist heute Ko-Partei- und Fraktionvorsitzender der LINKEN. Und machte inzwischen bisweilen weniger euphorische Erfahrungen: Mit den Medien, der politischen Konkurrenz und auch innerhalb der eigenen Partei. Über all das sprach mit ihm Gabriele Oertel.
Hartz IV ist ein ungeheuer europafeindliches Gesetz

ND: Vor der Europawahl wurde allen Parteien wenig ambitionierter Wahlkampf attestiert. Gilt das auch für die LINKE?
Lafontaine: Viele unserer Mitglieder engagieren sich im Europawahlkampf. Aber es ist – ausgehend von der nicht zu bestreitenden Tatsache, dass eine niedrige Wahlbeteiligung erwartet wird – üblich, den Parteien zu unterstellen, eher an der Bundestagswahl interessiert zu sein. Für uns kann das allein deshalb schon nicht der Fall sein, weil in Europa viele wichtige Entscheidungen fallen. Als Beispiel nenne ich die Aufrüstungsverpflichtung des Lissabon-Vertrages. Die LINKE will, dass die Außenpolitik Europas auf Entwicklungszusammenarbeit, Abrüstung und Frieden orientiert wird. Wir müssen europäische Regeln finden, um die Finanzinstitute unter Kontrolle zu bringen. Die LINKE weist als einzige Partei darauf hin, dass der Lissabon-Vertrag verbietet, Kapitalgeschäfte mit Drittstaaten zu regulieren und damit völlig überholt ist. Und die LINKE weist zusammen mit den Gewerkschaften darauf hin, dass das jetzige europäische Recht zum Abbau von Arbeitnehmerrechten führt. Der Vertragsentwurf ändert daran nichts, da er nach wie vor die neoliberale Philosophie freier Märkte an erste Stelle setzt.

Ist die Ablehnung des Lissabon-Vertrages überhaupt als pro-europäische Haltung vermittelbar?
Wenn man nur sagt »Nein zum Lissabon-Vertrag« ist das nicht vermittelbar, weil die große Mehrheit der Bevölkerung damit gar nichts anzufangen weiß. Wenn man aber sagt, wir wollen keine Aufrüstungsverpflichtung in Europa haben, dann verstehen das die Menschen. Wenn man sagt, wir wollen keinen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, verstehen sie es ebenso wie wenn man sagt, wir wollen eine Regulierung des Kapitalverkehrs auf europäischer Ebene und nicht krumme Geschäfte mit Steueroasen. Man muss Dinge benennen, die man will und die man nicht will. Wir wollen ein Europa, das der Entwicklungszusammenarbeit und Abrüstung verpflichtet ist, wir wollen ein Europa der Arbeitnehmerrechte und der regulierten Finanzbranche.

Sie haben kürzlich Hartz IV zum europafeindlichsten Gesetz erklärt. Das zielt auf die Proteststimmen der Betroffenen. Vielen von denen aber ist die Europawahl vermutlich ziemlich Schnuppe ...
Hartz IV als europafeindliches Gesetz zu bezeichnen, war notwendig und eine Antwort auf den Vorwurf unserer Gegner, wir seien »nationale Sozialisten«. Damit sollte ausgerechnet uns unterstellt werden, wir hätten mit der europäischen Idee nichts am Hut. Hartz IV ist aber deshalb ein ungeheuer europafeindliches Gesetz, weil es das Lohndumping in Europa in Gang gesetzt hat. Die Tatsache, dass in Deutschland die Reallöhne sinken, übt natürlich Druck auf die Nachbarländer und die Löhne dort aus.

Derlei Erkenntnis treibt allerdings den Hartz IV-Betroffenen noch nicht zur Wahlurne, oder?
Nein. Wir haben schlicht und einfach Sorge, dass viele nicht zur Wahl gehen, weil sie zu wenig informiert sind, welch wichtige Entscheidungen in Europa fallen – weil sie bei Hartz IV, Mindestlohn oder Arbeitslosengeld an den Bundestag denken und nicht ans Europäische Parlament. Die LINKE wird überdurchschnittlich von Menschen mit niedrigen Einkommen gewählt – bei Haushalten mit einem Einkommen von maximal 1500 Euro würden uns nach den aktuellen Umfragen bei der Bundestagswahl 22 Prozent wählen. Dort geht es nicht um Europa, sondern darum, ob am Monatsende Miete und Strom bezahlt werden kann.

Die Plakate der LINKEN weisen weit über den Europa-Wahlkampf hinaus – Landtags- und Bundestagswahlen lassen grüßen. Sie werden im Zeichen der Krise stehen. Aber diejenigen, die am heftigsten vor den Folgen eines ungezügelten Kapitalismus gewarnt haben, machen kaum Boden wett. Sind Sie mit der Rolle als Rufer in der Wüste zufrieden?
Natürlich müssten wir jetzt mehr Zustimmung haben, weil wir die ersten waren, die vor den chaotischen Zuständen auf den internationalen Finanzmärkten gewarnt, Folgen beschrieben und als erste einen ganzen Katalog notwendiger Maßnahmen vorgelegt haben: Verbot von Hedgefonds, Verbot von Geschäften mit Steueroasen, Verbote von Finanzgeschäften außerhalb der Bilanz, Verbot des Handels mit Giftprodukten. Aber gute Vorschläge nützen nichts, wenn die Medien nicht informieren und der neoliberale Block von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen sie im Bundestag ablehnt.

Die Menschen wissen zu wenig von der LINKEN?
Auf zwei aktuelle Vorgänge im Bundestag sei verwiesen. Die LINKE will, dass das Kurzarbeitergeld steuerfrei gestellt wird – ein wichtiges Angebot für alle Arbeitnehmer, die jetzt in Kurzarbeit sind. Aber auf vielen Versammlungen stelle ich fest, dass die Menschen darüber nicht informiert sind. Oder, wir wollen geringere Überziehungszinsen – statt 12, 13, 14, 15 nur 6 Prozent. Das würde vielen helfen, die ihr Konto ja nicht aus Jux und Tollerei überzogen haben. Sage ich das, erhalte ich immer viel Beifall. Aber weil es von der LINKEN kommt, findet man davon kaum etwas in den Medien. Die Verleumdungskampagnen der bürgerlichen Parteien zeigen Wirkung. Aber wir werden in den nächsten Monaten wieder mehr Zulauf haben.

Woher die Gewissheit?
Weil sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich sozial bedroht fühlen, doch letztendlich daran erinnern werden, dass die LINKE die einzige Partei ist, die Nein sagt zu Lohnkürzungen, zu Rentenkürzungen, zu Kürzungen sozialer Leistungen.

Und was ist mit dem Einwand der Unfinanzierbarkeit?
Dieser Vorwurf, der ununterbrochen wiederholt wird, ist allein durch zwei Zahlen widerlegt: Hätten wir eine Vermögenssteuer wie in Großbritannien, hieße das ein Plus von 90 Milliarden Euro in den öffentlichen Kassen. Gäbe es in Deutschland eine Börsenumsatzsteuer von einem Prozent, wäre das 2008 eine Steuermehreinnahme von 70 Milliarden gewesen.

Mit dem Finanzierungsvorwurf hängt der des Populismus zusammen. Wieviel Populismus ist bei Ihnen im Spiel?
Zunächst einmal heißt Populismus, man will dem Volk aufs Maul schauen, ein bisschen auch nach dem Munde reden – also seine Interessen formulieren. Die Frage ist doch, wollen wir Politiker die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung aufnehmen und politisch umsetzen, oder nicht? Leider ist ein Kriterium der Demokratie in der deutschen Politik nicht erfüllt. Für die Griechen war Demokratie eine Gesellschaftsordnung, in der die Entscheidungen so fallen, dass die Interessen der Mehrheit berücksichtigt werden. In Deutschland werden Löhne, Renten und soziale Leistungen gekürzt. Das heißt, die Interessen der Mehrheit werden nicht berücksichtigt. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die, die den Populismusvorwurf ständig im Mund führen, glauben, sie seien schlauer als die Mehrheit und es sei in Ordnung, wenn die Ungleichheit in Deutschland mehr zunimmt als in allen anderen OECD-Staaten.

Aber was heißt es, wenn Sie davon sprechen, dass die LINKE den Kapitalismus überwinden will? Vielleicht haben die Leute davor Angst – die aus dem Osten, weil sie schon einmal nicht ohne Blessuren eine Gesellschaftsordnung »überwunden« haben, und die aus dem Westen, weil sie sich nicht vorstellen können, was danach kommt?
Wenn die Menschen keine Vorstellung haben, was anstatt des Kapitalismus sein würde, können Ängste entstehen. Unsere Vision von einer Wirtschafts- und Sozialordnung ist gekennzeichnet durch Belegschaftsbeteiligung. Bei der gibt es keine alleinigen Entscheidungen irgendwelcher Eigentümer, die – siehe Porsche, Schaeffler oder Merckle – große Risiken eingehen und die Existenz von Arbeitsplätzen gefährden. Bei der gibt es Entscheidungen durch die Belegschaften, die aus unserer Sicht die Eigentümer des geschaffenen Betriebsvermögens sind. Die Belegschaftswirtschaft ist wirklich freiheitlich und demokratisch und ist die Alternative zu Kapitalismus wie Staatssozialismus.

Ein neuer, anderer Sozialismus?
Das, was in den osteuropäischen Staaten war, sollten wir besser Sozialismusversuche nennen. Es gab große Fortschritte bei sozialer Gleichheit, aber einen Mangel an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sozialismus nach unserem Verständnis war das nicht. Denn Sozialismus und Demokratie sind für uns untrennbar miteinander verbunden. Deshalb beruft sich ja auch DIE LINKE auf Rosa Luxemburg. Deshalb wollen wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen. Und deshalb ist für uns die wirkliche Demokratie eine solche, in der Arbeitnehmer mitbestimmen können. Und wenn man ihnen das Vermögen lässt, das sie geschaffen haben, ist das eine ganz andere Gesellschaft als die, die wir jetzt kennen. Wir wollen weder eine Wirtschaftsordnung, die von den Schaefflers oder Porsches bestimmt wird – noch eine, in der der Staat alleiniger Entscheider und letztendlich Verantwortlicher für Fehlentwicklungen ist. Letzeres sehen wir übrigens auch hierzulande: Belegschaften von Bahn und Telekom waren nicht etwa dadurch geschützt, dass der Staat Anteilseigener war. Garant dafür ist auch in diesem Fall nur Belegschaftsbeteiligung.

Oskar Lafontaine würde das durchsetzen, wäre er wieder saarländischer Ministerpräsident?
Als ich Ministerpräsident war, habe ich mit Erfolg die von privaten Anteilseignern völlig heruntergewirtschaftete saarländische Stahlindustrie verstaatlicht. Aus diesen Erfahrungen heraus war es mir wichtig, dass bei der Gründung der neuen LINKEN klar war, dass wir nicht weiter gesellschaftliches Vermögen verscherbeln. Es ist ja noch nicht so lange her, dass wir um die Frage gerungen haben, ob man die Berliner Sparkasse, Wasserwerke, Energieproduktion oder Wohnungsbauunternehmen – denken Sie an Dresden – verkauft. Wir haben in unser Programm geschrieben, dass die öffentliche Daseinsvorsorge in der Hand von Städten und Gemeinden sein muss. Dann haben wir mehr Demokratie und mehr Umweltschutz – dezentrale Energieversorgung ist umweltfreundlich. Aus meiner Erfahrung als ehemaliges Vorstandsmitglied eines kommunalen Unternehmens weiß ich, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in kommunalen Unternehmen unverzichtbar ist, wenn man nicht will, dass Stadtrat oder Vorstand sich über Arbeitnehmerrechte und -interessen hinwegsetzen.

Sie sind Partei- und Fraktionschef. Und wollen auch noch Ministerpräsident werden – oder nur die politische Konkurrenz ärgern?
Wir haben im Saarland eine besondere politische Situation, dort gibt es im Vergleich zum übrigen Westen eine überdurchschnittlich hohe Akzeptanz für die LINKE. Als Spitzenkandidat will ich dazu beitragen, dass das Ergebnis bei der Landtagswahl überdurchschnittlich gut wird. Deshalb bin ich bereit, das Amt des Ministerpräsidenten noch mal zu übernehmen. Nach unserer Landtagswahl wird DIE LINKE in fünf westdeutschen Landesparlamenten vertreten sein.

Und was passiert, wenn die SPD besser abschneidet als die LINKE?
Wir haben immer gesagt, dass das Landesprogramm der SPD im Saarland und unser Landesprogramm sich weitgehend überschneiden – Abschaffung der Studiengebühren, Gesamtschule nach finnischem Modell, andere Energiepolitik unter Einschluss des Sockelbergbaus an der Saar, kein Abbau von Personal, keine Kürzung sozialer Leistungen, keine weitere Privatisierung. Daher werden wir auch in diesem Fall eine Regierungsbeteiligung anstreben. Auf Bundesebene ist die Situation eine ganz andere. Die Position der SPD – Bejahung von Hartz IV und Bejahung von völkerrechtswidrigen Kriegen – ist mit unseren Grundüberzeugungen nicht vereinbar.

Klar dürfte sein, dass ein Lafontaine nicht unter einem SPD-Ministerpräsidenten Heiko Maas, der einst bei ihm in die politische Lehre ging, mitregieren würde.
Ja, das würde nicht nur mich, sondern auch Heiko Maas überfordern. Aber es ist überhaupt noch nicht entschieden, wer stärker wird. Es gab Umfragen, die uns vorne sahen, es gibt eine, nach der wir hinter der SPD liegen. Wir haben an der Saar nach wie vor die Chance, vor der SPD zu landen.

Zurück zu Europa. Der Streit um die Liste der LINKEN hat erneut Flügelkämpfe offenbart. Das treibt Sie nicht um?
Das würde mir dann Sorgen machen, wenn tiefe inhaltliche Konflikte die Grundlage wären. Davon kann aber keine Rede sein. Denn auch die verschiedenen Flügel haben mit deutlichen Mehrheiten dem Europawahlprogramm zugestimmt, und es gibt deutliche Zustimmung zum Bundestagswahlprogrammentwurf. Insofern gibt es in den wichtigen Fragen keine großen Auseinandersetzungen. Der Wechsel zur SPD oder der Austritt aus der LINKEN ist in den von den Medien behandelten Fällen darauf zurückzuführen, dass die Betreffenden von der Partei nicht wieder für Parlamentsmandate aufgestellt oder dass ihre Karrierewünsche nicht erfüllt wurden. Im Übrigen wechseln viel mehr Sozialdemokraten zu uns. Vor kurzem ist der ehemalige Baudezernent der Stadt Saarbrücken, Professor Nidner, von der SPD zu uns gekommen.

Mal ehrlich, haben Sie sich Ihr Agieren bei der LINKEN nicht doch ein bisschen leichter vorgestellt?
Vielleicht hatte ich die eine oder andere Fehleinschätzung. Aber Illusionen hatte ich nicht, zumal ich weiß, welche Mühen die Vorsitzenden anderer Parteien haben.

Dennoch: Auseinandersetzungen finden statt, es gibt Parteiaustritte, seltsame Briefe. Das Thema linke Regierungsbeteiligung, wozu Ihre distanzierte Haltung bekannt ist, ist längst nicht geklärt.
Ich habe keine distanzierte Haltung zur Regierungsbeteiligung, ich habe nur meine Erfahrung. Eine Regierungsbeteiligung muss dazu führen – das war zumindest mein Anspruch als Bürgermeister oder auch Ministerpräsident –, dass die Wähler nach der Legislaturperiode sagen, »die wählen wir wieder«, weil sie ihre Sache gut gemacht haben. Wenn einem die Wähler nach einer Regierungsbeteiligung einen kräftigen Dämpfer verpassen, muss man sich die Frage stellen, was man falsch gemacht hat.

Das war auch Ihre vergebliche Forderung an die SPD, als Sie dort noch Mitglied waren?
Ja. Hätte Schröder für seine Agenda 2010 oder seinen Kriegseintritt in Jugoslawien das Votum der Mitglieder eingeholt, wäre die deutsche Politik ganz anders gelaufen. Auch die Führung der LINKEN ist vor Fehlentscheidungen nicht gefeit. Insofern ist es wichtig, dass wir den Mitgliederentscheid eingeführt haben. Zu einer Regierungbeteiligung der LINKEN müssen die Mitglieder befragt werden. Schließlich sollen sie ja nachher auch die Regierungsentscheidungen vertreten.