Das »Brötchen« macht's

Erich Loest: Aus »Völkerschlachtdenkmal« wurde »Löwenstadt«

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 5 Min.

Für Erich Loest ist Zeitgeschichte Geschichte, die noch qualmt. Es muss vor allem dieser Geruch gewesen sein, der seine Nase reizte, als er den Plan fasste, seinen 1984 erschienenen Roman »Völkerschlachtdenkmal« weiterzuschreiben. Der liegt jetzt vor unter dem Titel »Löwenstadt« – die 284 Seiten von »Völkerschlachtdenkmal« an ganz wenigen Stellen um ein paar auf später verweisende Passagen erweitert, vor allem aber durch sechs Kapitel über die Jahre 1982 bis 2009 und auf nunmehr 343 Seiten fortgesetzt. Ein seltenes Verfahren in der Literatur, Romane weiterzuschreiben, um sie auf den neusten Stand des Geschichtsverlaufs zu bringen. Andererseits für einen Autor, dessen wichtigste Stoffquelle Geschichte ist, nicht ohne Reiz. Nicht ohne Reiz auch für den Leser. Gehörte doch »Völkerschlachtdenkmal« immer schon zu den stärkeren Loest-Romanen.

Ein Beispiel aus »Völkerschlachtdenkmal« (nunmehr auch »Löwenstadt«): Als 1863 das Allgemeine deutsche Turnfest in Leipzig stattfand, schmückte sich die Stadt für ihre Gäste. Leipzig wollte mit dem Turnfest seinem Image entkommen, fünfzig Jahre zuvor Europas größtes Schlachtfeld gewesen zu sein. Wohin mit der historischen Last? In die Schaufenster: »Erinnerungsstücke lagen in Schaufenstern, Waffen und Proklamationen, Porträts und Zeichnungen. Auch Kuriosa fehlten nicht, so ein vertrocknetes Brötchen aus großer Zeit.«

Das »vertrocknete Brötchen aus großer Zeit« zählte für mich – ob vom Autor erfunden oder in einem alten Bericht gefunden – immer zu den schönsten Details im Erzählstrom des deutschen Chronisten Erich Loest in »Völkerschlachtdenkmal«. Da ist es, das kleine Detail ohne das große Geschichtserzählung blass und Eigentum der Historiker bleibt. Loest besitzt immer einen großen Vorrat an Details, die er einbaut in die knappen, handfesten Sätze, mit denen er lieber durch die Zeit geht als durch die Psyche der Zeitgenossen. Statt Vexierbild lieber Holzschnitt.

Womit nicht der Hauptdarsteller des Romans unterschätzt werden soll: Fredi Linden! Er gibt sich gegenüber seinem Vernehmer die Vornamen Carl Friedrich Fürchtegott Vojciech Felix Alfred. Es sind die Vornamen der Helden seines Völkerschlachtdenkmals. Er darf sich nennen wie sie, leben sie doch in ihm weiter. Dem Völkerschlachtdenkmal, Koloss von Leipzig und Dom der Deutschen, war Fredi Linden zuletzt als Pförtner verbunden. Dann hatte er es sprengen wollen, um es Erich Honecker zu entziehen, der daraus ein Devisen bringendes Entsorgungslager für radioaktive Rückstände machen wollte. Diese Sorge entsprang zwar Fredis Fantasie, Tatsache aber war, dass er danach von der DDR-Staatssicherheit aus dem Verkehr gezogen und zwangsweise psychiatrischer Behandlung ausgesetzt wurde. Das war 1982 und Fredi Linden stand in seinem 69. Lebensjahr. Die Geschichte war für Fredi und die DDR zu Ende. So schien es, auch dem Autor. Dass sie es dann 1989 glücklicherweise nicht war, mit der friedlichen Revolution wieder in Bewegung kam, dem Schriftsteller neuen Stoff zuschob, macht jetzt aus »Völkerschlachtdenkmal« (1984) den Roman »Löwenstadt« (2009).

Es mag weitere Anstöße zum Weiterschreiben gegeben haben. Loest trug einige Kapitel von »Völkerschlachtdenkmal« in seinen beiden Koffern mit sich, als er am 20. März 1981 Leipzig verlassen musste. Er, der damals ein Ausschlussverfahren aus dem DDR-Schriftstellerverband befürchten musste, sah berechtigt keine Chance, diesen Roman jemals in der DDR veröffentlichen zu können. Vielleicht brachte gerade dieser Illusionsverlust jenen melancholischen Ton in den Roman hin-ein. Zum Plan der Fortsetzung nach 25 Jahren mag ihn wieder ein Illusionsverlust getrieben haben: Die Heldenstadt, die Löwenstadt – so sieht es Leipzigs Ehrenbürger Loest – sei dabei, ihr Erbe aus der Friedlichen Revolution zu vertun. Sein Fredi Linden, immer noch Jahrgang 1913, ist mittlerweile in einem Altenheim. Einem Professor, dem er jetzt gegenübersitzt, teilt er seine Sorgen um Leipzig mit. Was Fredi nicht selbst wissen kann, erfährt er von Sohn Joachim, der als Botengänger zwischen der Berliner SED-Zentrale und den Leipziger Genossen Einblick in die Hintergründe der Revolutionstage in Leipzig hat. Damit schafft sich Loest, der Zeithistoriker, die Gelegenheit zur Aufklärung: Es war allein der Leipziger Polizeigeneral, von allen Oberen verlassen, der den Befehl gab, gegen die Montagsdemonstranten am 9. Oktober 1989 keine Waffen einzusetzen.

Deutlich wird im Hauptkapitel über die Ereignisse vom Herbst '89, wie die örtlichen Genossen versuchen, ihre Macht zu retten, wenn sie an allen Orten Dialoge anbieten. Lieber einen Schritt zurück, um später wieder zwei voranzugehen, scheint die Losung. Dass dies zwanzig Jahre nach dem Herbst '89 eintreten könnte, fürchtet Loest. Sein Zorn gegen diese Aussichten fließen in das neue Romanende ein, wenn er die alten Strategen, vom Autor mit bissiger Ironie getarnt als Gourmets, in Leipzigs Nobelhotel neue Schlachtpläne für den Weg ins Rathaus entwerfen lässt. Im Geist des Zorns geraten die neuen Kapitel etwas holzschnittartiger als gut wäre. Versöhnen konnte den hier literarisch leicht verletzten Rezensenten Loests Liebe zu seinem Fredi Linden. Die bewahrt ihm der Autor mit leisem Humor bis zur letzten Seite, bis zu Fredis letztem Wort.

Wenn Fredis Liebe Leipzig nicht mehr vorbehaltlos gelten kann, dann wenigstens einer Frau. Damit ist zwar nicht Angela Merkel gemeint, aber die findet im letzten Fredi-Linden-Monolog Erwähnung. Ihr legt der kluge kleine Mann ans Herz, zur 200-Jahr-Feier der Völkerschlacht bei Leipzig aller zu gedenken, deren Leben Fredi in seiner Vornamensgalerie weiterlebte: Carl Friedrich Fürchtegott Vojciech Felix Alfred. – In der Fredi-Linden-Figur verbinden sich nach 25 Jahren »Völkerschlachtdenkmal« und »Löwenstadt« fast nahtlos. Was Loests Fortsetzungsambition vom Resultat her bestätigt, ohne dass damit allen lebenden Autoren empfohlen sei, ihre Romane auf historischem Grund fortzuschreiben. Das bleibt eine literarische Zwickmühle.

Erich Loest: Löwenstadt. Roman. Steidl Verlag. 336 S., geb., 20 €.

»Im Grunde haben alle, die durch diese Leidenszeit gingen, lebenslänglich. Diese Wirkung wollte ich abschwächen, indem ich immer einen Bogen um Bautzen machte. Vor drei Jahren fuhr ich doch hin, zu einer Lesung, sagte aber gleich: Ohne Knast bitte. Der Oberbürgermeister führte mich durch seine schöne Stadt, die Lesung in einer alten Kirche war ein Triumph. Und doch kam, weit vom Schuss, in einer westdeutschen Zeitung, Mäkelei an meinem Verhalten auf. Ich beharrte: »Ich besuche Bautzen II nicht, und denen, die das nicht verstehen, antworte ich: Ihr habt keine Ahnung, Kinder.«
ERICH LOEST, »Die Zeit« 24/09

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal