Der Fahrgast als Versuchskaninchen

Tests waren den Bahnreformern zu teuer – Achsbrüche und Unfälle sind die logische Folge

  • Erich Preuß
  • Lesedauer: 3 Min.
Beim gegenwärtigen S-Bahn-Chaos in Berlin entsteht der Eindruck, wohl vom Management der Deutschen Bahn (DB) beabsichtigt, die Ursache für die Fahrzeugausfälle sei höhere Gewalt. Es gibt aber Stimmen, die die Achsprobleme, derentwegen die S-Bahn-Züge nach kurzer Laufweite in die Werkstatt müssen, als Folge von Unterbemessung bezeichnen.
Mehr Tests im Vorfeld hätten Bahn-Chaos verhindert.
Mehr Tests im Vorfeld hätten Bahn-Chaos verhindert.

Bereits im Prozess nach der Katastrophe von Eschede am 3. Juni 1998, wo beim ICE 884 ein Radreifen barst, stellte sich heraus, dass bei der Zulassung der Radsätze schwer gesündigt worden war. Obwohl es Erfahrung mit Dauerfestigkeitsversuchen eines August Wöhler von 1858 bis 1870 gab, war von rund 5000 gelieferten ICE-Radsätzen nur einer geprüft worden, und das auch nur im Stand und mit zu niedrigen Kräften. Wöhler empfahl anno 1870, jede 50. Achse zu prüfen. Der im Eschede-Prozess angeklagte Dr. Thilo von M. schrieb ein Jahr vor der Katastrophe in einer Fachzeitschrift: »Radsätze gehören zu den Komponenten der Schienenfahrzeugtechnik, von deren Funktion die Sicherheit des Eisenbahnbetriebes maßgebend abhängt. Deshalb sind bei allen Neuentwicklungen umfangreiche Prüfungen und Nachweise notwendig, um den Dauereinsatz vorzubereiten.«

Drei Jahre vorher, im ersten Jahr der DB, erhielt deren Vorstandsvorsitzender Heinz Dürr nach seiner Erklärung vor allem von fachlich Unkundigen viel Beifall, dass jetzt nur noch »Fahrzeuge von der Stange« gekauft werden. Die Bahn prüfe und erprobe sie nicht mehr. Das sei nicht ihre Sache. Schließlich würden Autos auch nicht vom Käufer erprobt.

Die DB sparte das Geld, das vorher die Deutsche Bundesbahn und auch die Deutsche Reichsbahn in die Erprobungen gesteckt hatten. Da dauerte es auch mal zwei Jahre, ehe feststand, dass das Fahrzeug »bahnfest« sei und die Serienproduktion anlaufen könne. Im »Unternehmen Zukunft« brauchte man die Fachleute nicht mehr, und auch die Industrie sparte, um in Preisverhandlungen mit der Bahn mithalten zu können. Die Analyse der in den Rädern auftretenden mechanischen Spannungen unterblieb. Jetzt gab es nur noch Käufer und Lieferanten. Manche schwafelten, das sei das Neue an der Bahnreform – eine Erfolgsgeschichte!

Doch das Gewonnene musste bald doppelt und dreifach für Ersatzmaßnahmen ausgegeben werden. Das Versuchskaninchen: der Fahrgast. Er stand vor kaputten Türen, schwitzte unter ausgefallenen Klimaanlagen und kam später ans Ziel, weil die Neigetechnik abgestellt werden musste. Die Liste der Mängel ist lang. Sie beschränkt sich nicht nur auf Achsprobleme. Das Eisenbahn-Bundesamt, sonst gescholten, es gefährde mit seinen Auflagen die Bahnreform, wurde erst aktiv, als die Gefahren nicht mehr zu übersehen waren.

Chronik: Achsbruch im November 2000 an einem »Pendolino«, alle Neigetechnikzüge des Typs werden aus dem Verkehr gezogen. Nach einem Jahr Einsatz entgleiste am 2. Dezember 2002 in Gutenfürst ein ICE-TD infolge eines Ermüdungsbruches an der Treibradsatzwelle. Die Züge wurden abgestellt. In die Werkstatt mussten 192 Neigezüge der Baureihe 612 im August 2004, nachdem Risse an zwei Wellen entdeckt worden waren. Schließlich die Entgleisung des ICE am 9. Juli 2008 in Köln nach einem Achsenriss und die der S-Bahn am 1. Mai 2009 in Berlin aus gleicher Ursache.

Keine »Heuschrecke« gefährdet die Bahn, sondern die Gier der Manager nach Gewinn, und die Politik schaut zu.

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