Polytechnik als Passion

Der Bautzener Lehrer Andreas Samuel bildet die Ingenieure von morgen aus

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Jungs treten aufs Gaspedal. »Herr Samuel, wir wollen Traktor fahren!«, rufen sie, kaum dass sie ihre Schultaschen energisch in die Ecke befördert haben. Samuel bremst. Erst, sagt der Lehrer, wird gelötet: kleine Kästchen aus Leiterplatten, aus denen später einmal einfache Funktionsmodelle von Elektromotoren entstehen sollen. Danach kann das robuste Gefährt vor der Tür in Betrieb genommen werden, das wie eine Kreuzung aus Kutsche, Rasenmäher und Kart-Rennwagen aussieht. »Ich gebe euch Strom«, sagt der bärtige Lehrer. Minuten später ist der Raum in dichten Nebel gehüllt, der von den Lötkolben aufsteigt, und ein Schüler führt eine Art Veitstanz auf, weil ihm ein Tropfen heißes Lötzinn ins Hosenbein gerutscht ist. Macht nichts, sagt Samuel: »Das gehört dazu.«

Es gehört zu einem Lehrprogramm, mit dem Andreas Samuel die sächsische Ingenieurtradition hochhalten will – auch in Zeiten, da Jugendliche lieber zur Spielkonsole greifen als zum Lötkolben und eher virtuelle Autorennen gewinnen als zu verstehen suchen, wie ein Benzinmotor funktioniert. Natürlich sagt Samuel nicht ausdrücklich, dass er eine Tradition der Technikbegeisterung und des Forscherdrangs am Leben hält. Er ist ja nicht Lehrer für Rhetorik, sondern für Informatik sowie für Werken – »oder Technik und Computer, wie das heute heißt«, sagt Samuel, der auch nichts gegen den alten Titel einzuwenden hat. Beim Wort »Werken« denkt man schließlich an manuelle Tätigkeiten: Sägen, Bohren, Hämmern, Löten. Es gibt freilich einen Begriff, der dem 48-Jährigen noch mehr aus dem Herzen spricht, weil er auch die geistige Durchdringung der technischen Geräte, Vorgänge und Verfahren beinhaltet: Er sei, sagt Samuel, »ein Polytechniker aus Leidenschaft«.

Das sieht sofort, wer Samuels Reich betritt: das »Zuseum«. Die Einrichtung, die in einer alten Fabrikantenvilla mit weitläufigem Garten in Bautzen residiert, erinnert mit ihrem Namen an Konrad Zuse, den 1910 geborenen und zeitweise im nahe gelegenen sächsischen Hoyerswerda beheimateten Erfinder der ersten funktionsfähigen Rechenmaschinen. Der Name lässt auch an ein Museum denken, was jedoch schlicht irreführend genannt werden muss. Zwar gibt es in dem Haus auch eine kleine Ausstellung über den Pionier der Computertechnik. Bei den Instrumenten und Gerätschaften, die dort zu sehen sind, handelt es sich jedoch nicht um ehrwürdig-wertvolle Ansichtsstücke, die mit der Aufschrift »Berühren verboten« vor neugierigen Zugriffen bewahrt würden, sondern vielmehr um Funktionsmodelle, die von Schülern gebaut wurden und ausdrücklich zum Ausprobieren einladen.

Auch alle anderen Geräte, Instrumente, Bauteile und Modelle, die in großer Zahl in den Vitrinen und Schränken des »Zuseums« stehen, sind nicht zum Bestaunen, sondern zum Verwenden gedacht. Das gilt noch mehr für die Maschinen in den vielen, an eine Mischung aus Rumpel- und Schatzkammern erinnernden Werkstätten eines Nebengebäudes. Mit bubenhaft blitzenden Augen führt Samuel eine CNC-gesteuerte Fräsmaschine vor, ein Kabinett mit Tischen voller Computer, Schränke voller Stabil-Baukästen oder Nähmaschinen und schließlich einen übermannsgroßen Schmiedehammer, dessen Installation in der künftigen Schmiede wahrhaft herkulische Kräfte erfordert haben muss. Dafür aber, schwärmt Samuel, »arbeitet der auf den Millimeter genau!«.

Ob das auch auf die Schüler zutrifft, die den Schmiedehammer in Betrieb nehmen können, ist indes fraglich. Die meisten von ihnen sind schließlich alles andere als geborene Handwerker. Bei etlichen ist er bereits versucht, mit dem Kopf zu schütteln, wenn sie nur zu einem Pinsel greifen, sagt Samuel: »Die manuellen Fertigkeiten sind teilweise sehr schlecht ausgebildet.« Aber Samuel schüttelt den Kopf nicht und schilt auch nicht, sondern lässt die Kinder erst recht gewähren. Wenn auch die Arbeit mit Pinsel oder Lötkolben teils recht unbeholfen wirkt – eines besitzen die meisten Schüler, die ins Zuseum kommen: Neugier. Sie ist der Funke, den Samuel schürt, indem er die Kinder hantieren und probieren lässt, ohne ihnen mehr als die nötigsten Vorschriften zu machen.

Nicht selten wird aus dem Funken ein richtiges Feuer. So, wie bei drei Schülern des Bautzener Schillergymnasiums, an dem Samuel hauptberuflich unterrichtet. Die 15-jährigen Jungen, denen im Chemieunterricht die alkoholische Gärung vorgeführt worden war, die das Procedere aber als zu umständlich und mühselig empfanden, ertüftelten unter Anleitung Samuels eine vollautomatische Anlage zum Brauen von Bier – ein auf den ersten Blick skurril wirkendes Gerät, dessen Herzstücke ein Glühweintopf und ein ausrangierter Akkuschrauber zum Antrieb des Rührwerks sind, das aber selbst Braumeister zum Staunen brachte: Gesteuert von einem umfangreichen, selbst geschriebenen Computerprogramm, erhitzt und kühlt es zunächst die Maische aus Wasser und Malz und köchelt später die nach dem Zusatz von Hopfen entstandene Würze. Alles streng nach deutschem Reinheitsgebot – und inzwischen vielfach bestaunt: An einer Erfindermesse nahmen Samuels Schüler ebenso teil wie am sächsischen Landeswettbewerb »Jugend forscht«. Nur die etwas heikle Nähe von Jugend und Alkohol verhinderte dort wohl eine Auszeichnung.

Dass aus seiner Werkstatt immer wieder solche jungen Tüftler hervorgehen, erfüllt Samuel nicht nur mit dezent verstecktem Stolz, sondern bestätigt ihn auch in der Entscheidung, nicht selbst Ingenieur zu bleiben. Vor einem Vierteljahrhundert hatte der studierte Nachrichten- und Rechentechniker bei RFT in Bautzen angefangen. Weil er gern die Station junger Techniker leiten wollte, fügte er eine pädagogische Ausbildung an – und »blieb in der Schule hängen«, wie er sagt. Es war ein Wechsel aus Leidenschaft: »Die Arbeit mit den Jugendlichen hält mich jung«, sagt Samuel, der dafür auch einige Unbill in Kauf nimmt. Zunächst halbierte sich beim Übergang von der Industrie in das Schulwesen sein Gehalt; nach 1989 folgte zudem erneut ein vier Jahre langes Fernstudium samt Referendariat, weil der Abschluss als Lehrer für Werken, Technisches Zeichnen und das Fach »Einführung in die sozialistische Produktion« nicht anerkannt wurde. Dabei hat Samuel seinen Kollegen durch seine praktische Berufserfahrung viel voraus: Lehrer für das Fach TC werden heute nicht speziell ausgebildet, sagt er. Ob Schüler auf einen versierten Techniker treffen oder einen Lehrer, der sich für Computer und nebenbei auch ein wenig für Basteln interessiert, ist Glückssache.

Freilich: Die unzureichende Lehrerausbildung ist nur ein Punkt, der Samuel manchmal ein wenig zweifeln lässt. Der passionierte Polytechniker vermisst in den Schulen von heute auch die »Praxisverbundenheit«. Während er als Achtklässler einen »Kniehebelspanner« für eine Fräsmaschine gefeilt und an der Drehbank gearbeitet hat, was ihn »sehr stolz« gemacht habe, käme die Ausbildung technischer und handwerklicher Fähigkeiten heute viel zu kurz. Während er als Jugendlicher eine Diskoanlage mit Mischpult und Lichtorgel zusammenlötete, was »hundsgefährlich war, aber Erfahrungen gebracht hat«, wie er sagt, habe ihm kürzlich ein Dozent für Elektrotechnik sein Leid geklagt: Viele Studienanfänger könnten »nicht einmal eine Schaltung stecken«. Wo sollen sie es freilich auch lernen? Zwar führen manche Schulen wieder einen Praxistag in Betrieben ein, der aber auf keinen Fall als »Unterrichtstag in der Produktion« bezeichnet werden soll. Auch »Tage der offenen Tür« werden in Betrieben gern angeboten. Aber all das, sagt Samuel, »kann doch das Selbsttun nicht ersetzen«.

Im Zuseum können die Schüler nach Herzenslust selbst tun: Roboter aus Bausätzen oder Flugmodelle basteln, am Aufbau einer Parkeisenbahn mitwirken, an Elektrorennwagen und der skurrilen Benzinkutsche schrauben, an Vogelkästen sägen oder programmieren und löten. Dass es das Zuseum gibt, ist nicht zuletzt Samuels Verdienst. Weil für die Zuse-Ausstellung bei der Sanierung seines Gymnasiums kein Raum gefunden wurde, rief er den Verein ins Leben, der dann die Villa herrichtete – die ironischerweise neben dem früheren Pionierhaus liegt, das später noch als Jugendzentrum weiterlebte, bevor es vor ein paar Jahren pleite war. Nun wird ein neues Haus aufgebaut – mit wenig Geld, aber um so mehr Enthusiasmus. Er selbst habe »drei Jahre auf dem Dach gesessen«, sagt Samuel, wenn er auf das gediegene Äußere der Villa angesprochen wird, die vor sieben Jahren eine Ruine war. Viele Helfer haben ähnlich energisch angepackt. Das nötige Geld wurde unter anderem bei einer Stiftung sowie bei Wissenschaftlern und Anhängern Zuses eingeworben, die nach Bautzen eingeladen wurden und von der Idee begeistern waren.

Inzwischen ist das Haus in vollem Betrieb, auch wenn noch immer an allen Ecken und Enden gemauert und gezimmert wird. Und es wird gelobt: Von einem »Kleinod in Ostsachsen« schrieb der begeisterte Redakteur einer Fachzeitschrift für technische Jugendbildung; bei einem Lehrerwettbewerb zum Informatikjahr 2006 erhielt die Einrichtung einen 1. Preis. Die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen und technischen Themen habe dort »jenseits traditioneller Lernwege neue Impulse erhalten«, formuliert die Jury etwas spröde – und fügt den euphorischen Ausruf an: »Das Zuseum sollte Schule machen!»

Freilich: Das Lob der Fachwelt ist ersprießlich und bestätigt das Konzept, hilft aber nicht beim Begleichen von Rechnungen. Samuel freut sich, dass die Stadt 150 Euro zu den Heizkosten zuschießt und das Landratsamt die Kohlen bezahlt. Auch eine Baufirma, die Stadtwerke und die Kurt-Pauli-Stiftung helfen regelmäßig. Dennoch ist es mühselig, jährlich 2000 Euro für Strom und Gas aufzutreiben, geschweige denn das Geld für Baukästen oder Material. Zum Glück, sagt Samuel, gibt es ehemalige Kollegen, die immer wieder mal Messgeräte, Bauteile und Werkzeuge stiften. Zudem hat er in den Schränken und Vitrinen viel nützliches Gerät angesammelt. Schließlich aber ist Samuel vor allem erfinderisch. Es steht zu hoffen, dass dieser Einfallsreichtum das »Zuseum« im Rollen hält und es dem Haus nicht geht wie dem knatternden Gefährt auf seinem Hof. Das schieben die Jungs, nachdem sie die Lötkolben beiseite gelegt und Benzin eingefüllt haben, mit Schwung hin und her. Der Lärmpegel ist hoch, kommt aber vor allem von den Anschiebern und nicht vom Motor. Der pafft und knattert ein wenig, dann bleibt er stumm. Macht nichts, sagt Andreas Samuel: »Das reparieren wir nächste Woche.«

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