Bauhaus, Klezmer und Neurosen

23. Jüdische Kulturtage locken mit Ausstellungen, Konzerten, Literatur und Langer Nacht

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Zu Heinz Koppel, hier um 1948 in seinem Atelier, zeigt das Centrum Judaicum eine Werkschau.
Zu Heinz Koppel, hier um 1948 in seinem Atelier, zeigt das Centrum Judaicum eine Werkschau.

Vielseitig sind auch in diesem Jahr die Jüdischen Kulturtage. Nach jüdischer Identität fragen sie acht Tage lang und lassen in einem reichhaltigen Programm Spitzenkünstler aus Israel und der Welt darauf antworten – sie und auch die diesmal nicht Eingeladenen verkörpern durch ihre Aktivitäten ganz praktisch jüdische Identität. Und die spiegelt sich sowohl in den Bereichen des öffentlichen wie privaten Lebens, als auch in allen Bereichen der Kunst.

So erinnern im Centrum Judaicum zwei Ausstellungen an kaum mehr bekannte, in Berlin geborene Künstler. Zu den ersten Architekturabsolventinnen der TH Charlottenburg gehörte Lotte Cohn, die 1921 nach Palästina ging und am Aufbau Israels beteiligt war. Eine umfassende Werkpräsentation erlebt Heinz Koppel, ein vom Expressionismus und Surrealismus beeinflusster Maler, der vor den Nazis nach England floh, dort die Kunstszene mit prägen half. Was die über 300 jüdischen Architekten bis zum Berufsverbot 1933 in Berlin bauten, hauptsächlich im Stil der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses, kann man bei Führungen entdecken, die gleichsam die Gründung des Bauhauses vor 90 Jahren feiern. Start ist jeweils vor dem Centrum Judaicum.

Wie lebendig jüdische Kultur im Heute wurzelt, davon zeugen Musikveranstaltungen. Dass ein Großteil Felix Mendelssohn Bartholdy gewidmet ist, nimmt im Jahr seines 200. Geburtstags nicht wunder. Der Sänger Michael Schiefel, namhafter Jazzer aus Israel, erschließt sich und uns im Bauhaus-Archiv gemeinsam mit dem Pianisten und Organisten Carsten Daerr eine neue Sichtweise auf Mendelssohns Lieder und Instrumentalstücke. Am selben Ort spielen Rahel Rilling, Dávid Adorján und Paul Rivinius Klaviertrios des Meister der Romantik, und gegen Ende der Festtage präsentiert das Mendelssohn Kammerorchester Leipzig unter Vladimir Stoupel in der Synagoge Rykestraße die Sinfonie No. 1 sowie, mit der Isländerin Judith Ingolfsson als Solistin, das Violinkonzert e-Moll. Dort gastiert mit Yasmin Levy & Band auch ein Weltmusikstar von heute: Liebeslieder, Balladen, Wiegenlieder singt sie in Ladino, der nur noch von wenigen gepflegten Sprache der spanischen Juden.

Wie vielfältig nutzbar die frisch sanierte Synagoge Rykestraße mit ihrer großartigen Akustik ist, beweisen weitere Konzerte. Die Londoner Band Oi Va Voi, deren Name Potzblitz bedeutet, kombiniert in ihrem Stilmix Klezmer, Clubsound, Jazz, Rock, Hip-Hop, Drum’n’Bass zu singulärem Sound. Zum Abschluss der Kulturtage spielen der Klarinettist David Orlowsky und das Solistenensemble Kaleidoskop Musik von drei Komponisten unterschiedlicher Generation: Jerzy Fitelberg, Osvaldo Golijov und Steve Reich.

Davor liegen als wichtiger Programmschwerpunkt die Jüdischen Literaturen. Über die Woche verteilt stellen sie im Jüdischen Museum sowie im Anne Frank Zentrum Autoren vor: Eshkol Nevo, dessen Debütroman vom Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern erzählt; Assaf Gavron, der vom Kampf um Wasser und fiktiv über ein palästinensisch beherrschtes Israel schreibt; Johanna Adorján, die die Geschichte ihrer Großeltern rekonstruiert; Lily Brett mit einem Roman über Väter und Töchter, polnische Küche und New Yorker Neurosen; Viola Roggenkamp, die aus ihrem aktuellen Roman um zwei Frauen liest.

Acht Synagogen stehen am 4.9. zum Schabbat-Gottesdienst offen, laden am Tag darauf zur Langen Nacht der Synagogen.

Bis 6.September., Kartentelefon (01805) 57 00 00, Infos unter www.juedische-kulturtage.org

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