Die schwierige Wahl des möglichen Dritten

Jürgen Trittin, Spitzenkandidat der Grünen zur Bundestagswahl, streitet für eine »Reformkoalition mit einem starken rot-grünen Kern«

  • Lesedauer: 10 Min.
Jürgen Trittin, geboren 1954 in Bremen, hat für die Grünen schon auf vielen Stühlen gesessen. Das Gründungsmitglied der Partei war zwei Jahre Ratsmitglied in Göttingen, sieben Jahre Landtagsabgeordneter in Niedersachsen, seit 1998 sitzt er im Bundestag, ist stellvertretender Vorsitzender seiner Fraktion. Vier Jahre lang war er Landesminister, sieben Jahre Bundesminister, jeweils in Kabinetten von Gerhard Schröder. Von 1994 bis 1998 war er Bundessprecher der Grünen. Mit ihm sprach Jürgen Reents.
Die schwierige Wahl des möglichen Dritten

ND: Sie sind im Wahlkampf viel herumgereist. Wie läuft denn die Koalition in Hamburg?
Trittin: Ich höre, dass die Hamburger CDU reichlich an den Veränderungen knabbert, die die Grünen in der Schulpolitik auf den Weg gebracht haben. Unsere Handschrift für mehr Chancengleichheit wirkt schmerzhaft in das Kernmilieu der Union hinein.

Und was hören Sie aus Frankfurt am Main?
Dass die Oberbürgermeisterin Petra Roth zur Kronzeugin gegen Angela Merkel wird. Sie argumentiert gegen Steuersenkungen für Besserverdienende. Sie hat begriffen, dass selbst eine Stadt mit dem hohen Steueraufkommen von Frankfurt bei diesem Konzept in eine katastrophale Notlage geraten würde. Die Kinderbetreuung könnte nicht ausgebaut, Kindertagesstätten müssten geschlossen, an den Unis müsste gekürzt werden.

Das klingt nach schwarz-grünen Erfolgsstories. Es gibt ja sogar Jamaika-Bündnisse, z. B. in Wiesbaden. Wie laufen die?
Es gab und gibt auf kommunaler Ebene sehr viele Bündnisse. Mir fällt z. B. Dresden ein. Dort hat sich eine CDU-Oberbürgermeisterin auf eine Ratsmehrheit von CDU, LINKE und FDP gestützt ...

Oh, Dresden ist ein sehr holpriges Pflaster, dort ist die Stadtratsfraktion der LINKEN zerborsten. Seit der letzten Kommunalwahl im Juni ist diese Episode beendet.
Jedenfalls ist an der kommunalen Basis vieles vorstellbar, bei dem man im Berliner Politikbetrieb die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde.

Gut, reden wir über die Grünen.
Unsere kommunalen Erfahrungen kann man quantitativ auswerten: Auf sehr viele rot-grüne Koalitionen kommen ein paar andere Konstellationen. Die politischen Übereinstimmungen zwischen Grünen und Sozialdemokraten sind auch auf kommunaler Ebene meist größer als die zwischen Grünen und CDU, und die mit der Linkspartei sind größer als die mit der FDP.

Was hindert die Grünen, ihre gelegentlichen schwarz-grünen Vorstöße auch im Bund zu testen?
Die zu großen Unterschiede. Die Union will die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern, sogar neue bauen. Sie will den Überwachungsstaat ausbauen und spielt mit dem Gedanken, den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu ermöglichen. Sie will die wenigen branchenbezogenen Mindestlöhne, die es bislang gibt, schleifen. Das und vieles mehr ist für uns undenkbar.

Sie machen Wahlkampf gegen die Große Koalition und gegen eine schwarz-gelbe Mehrheit. Was setzen Sie dagegen?
Wir wollen die Grünen so stark wie möglich machen.

Alle Parteien wollen möglichst stark werden. Nun möchten die Grünen obendrein gerne wieder in die Regierung. In welche denn?
Zunächst muss Schwarz-Gelb verhindert werden. Die Gegenmobilisierung gegen das schwarz-gelbe Projekt, die lange nicht richtig spürbar war, hat seit den Landtagswahlen Ende August Fahrt aufgenommen. Aber die Bedingungen von vor 1998 haben sich mit dem heutigen Fünf-Parteiensystem verändert. Es geht nicht mehr einfach um Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb, Inhalte werden wichtiger als Konstellationen. Dennoch: Wir streben eine Regierung mit einem starken rot-grünen Kern an.

Also SPD und Grüne – mit welcher Zutat? FDP oder die LINKE?
Es gibt zwei mögliche Dritte im Bunde, die gleichermaßen schwierig sind. Die Linkspartei hat erklärt, auf Bundesebene Opposition bleiben zu wollen und damit die CDU an der Regierung zu halten. Sie schickt sich gerade an, sich in einigen Ländern hoch realpolitisch zu verhalten. Auf der Bundesebene aber will sie diesen Prozess noch nicht nachvollziehen. Gegenüber der FDP sehe ich viele programmatische Differenzen, aber auch Schnittmengen, z. B. in der Frage des Datenschutzes. Mit zwei Industrie-Parteien in der Regierung zu sein, ist für überzeugte Ökologen keine verlockende Vorstellung. Unser Maßstab an mögliche Partner ist die soziale Gerechtigkeit, die ökologische Modernisierung, die Bewahrung der Bürgerrechte und eine verlässliche Außenpolitik.

Die FDP hat eine Ampel erneut ausgeschlossen. Ein entsprechendes Wahlergebnis vorausgesetzt: Bleibt sie dennoch eine Option?
Die FDP beschließt sonntags auf einem Bundesparteitag, dass Opel keine Staatsknete erhalten soll, und mittwochs in den Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und Hessen, bedingungslos zu zahlen. Ich stelle anheim, wie Parteitagsbeschlüsse der FDP zu bewerten sind.

Sie ermuntern die FDP, ihre Wahlaussage nicht ernst zu nehmen. Vielleicht überlegen Sie nach der Wahl auch neu, ob doch ein »Dampfer nach Jamaika« fährt?
Niemand sollte unsere Hartnäckigkeit unterschätzen, wenn wir uns für etwas entschieden haben. Als wir 1998 an die Regierung kamen, hat man uns gesagt, nie und nimmer werden die Atomkonzerne auf ihre unbefristeten Laufzeitgenehmigungen verzichten. Am Ende des Tages haben sie verzichtet. Es wird keine Kombination mit Schwarz-Schwarz und Gelb geben, die wären in jeder Frage gegenüber den Grünen in der Mehrheit.

Worin liegt dann die Richtungsentscheidung, von der die Grünen sprechen?
Sie liegt vor allem in der Frage, ob wir zurück wollen in eine Politik der Deregulierung und eine rein angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, mit allen Konsequenzen auch für die bleibende Marktmacht der Energiekonzerne, oder ob wir einen Ausweg daraus nehmen.

Werben Sie klandestin für ein Projekt Rot-Rot-Grün?
Nein, überhaupt nicht. Wir sagen bewusst, wir streben eine Reformkoalition mit einem starken rot-grünen Kern an. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass die Vorsitzenden der SPD und der Linkspartei sagen, sie stünden 2009 nicht für eine gemeinsame Regierungsbildung im Bund zur Verfügung.

Aber Sie wären nicht abgeneigt, die Konditionen dafür auszuloten?
Zur Zeit loten wir in Thüringen und im Saarland eine solche Konstellation aus. Aber ein Land zu regieren, heißt noch nicht, im Bund regierungsfähig zu sein. Was ist mit dem neuen EU-Vertrag? Was ist mit der Haltung der Linkspartei zum Primat der Vereinten Nationen? Man kann sich nicht ernsthaft hinstellen und sagen, man sei für die Vereinten Nationen, dann aber auch den harmlosesten, unbewaffneten UN-Einsatz zur Absicherung von Waffenstillständen ablehnen. Das weiß Oskar Lafontaine. Wenn er die Linkspartei im Bund an die Regierung führen möchte, wird er diese Position räumen müssen. Es ist völlig klar, dass das nicht in kürzester Frist geschieht, und deswegen liegt bei dieser Bundestagswahl diese Option auch nicht auf dem Tisch. Aber diese Frage hat die Linkspartei vor sich. Im Unterschied zur FDP ist sie doch eine Programmpartei, ich gehe also von rationaler Erkenntnis aus.

Vor 1998 hat die SPD den Grünen den NATO-Stock hingehalten, den sie überspringen sollten, um »regierungsfähig« zu werden. Halten Sie den nun der LINKEN hin?
Nein, ich spreche bewusst von den Vereinten Nationen, nicht von der NATO. Die UN sind heute nach den USA der zweitgrößte Truppensteller bei internationalen Einsätzen. Da kann man nicht sagen, okay, das sollen die Bangladeschis machen. Das ist eine arrogante Haltung nach dem Motto, die reichen Länder zahlen für den Erhalt des Friedens in dieser Welt und die armen Länder verheizen ihre Soldaten.

Für die Grünen war dies das Einstiegsargument, um schließlich – in Jugoslawien – einen Angriffskrieg mit zu befehlen, dem kein UN-Mandat zu Grunde lag.
Ich beziehe mich auf das, was ich 1995 als Parteivorsitzender der Grünen durchgesetzt habe: die Bejahung von Stabilisierungseinsätzen unter dem Dach und dem Kommando der Vereinten Nationen. Das war drei Jahre bevor wir mit der SPD die Bundesregierung bildeten.

Und mit diesem Regierungsantritt wandelten die Grünen sich zur Kriegspartei.
Den Begriff Kriegspartei weise ich zurück. Es gab damals die extrem schwierige Wahl zwischen zwei schlechten Optionen, Völkermord geschehen zu lassen oder ohne UN-Mandat zu intervenieren, um Milosevic zu stoppen. Aber wir haben aus dieser Geschichte gelernt und schon während unserer Regierungszeit eine Konsequenz daraus gezogen. Wir sind deswegen in Mazedonien frühzeitig mit einem OSZE-Mandat hineingegangen, bevor es zu einem Bürgerkrieg kam. Heute ist Mazedonien auf dem Weg in die EU. Man kann also nicht nur in Oppositionszeiten, sondern auch in Regierungszeiten lernen, was falsch ist und was man nicht wieder tun sollte.

Gilt das auch für Afghanistan? Auch hier stand am Beginn ein rot-grüner Marschbefehl. Wurde der Krieg erst falsch, als die Grünen wieder in die Opposition kamen?
Der Sturz des Taliban-Regimes beruhte auf dem Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nach dem 11. September. Er hat ein brutales Terrorregime beendet. Damit aber hat sich in Afghanistan die Operation Enduring Freedom erledigt – sie ist sogar kontraproduktiv geworden, weshalb wir seit 2006 ihr Ende fordern. ISAF – der Unterstützungseinsatz für Afghanistan – beruht auf einem jährlich verlängerten Mandat des Sicherheitsrates. Hier braucht es einen Strategiewechsel: mehr zivile Hilfe, mehr Polizeiaufbau, Verzicht auf Luftschläge. Wir brauchen eine Aufbau- und Abzugsperspektive für die nächsten vier Jahre. Dieser Position nähert sich ja inzwischen auch Oskar Lafontaine an, wenn er sagt, »sofort« heiße »so schnell wie möglich, aber nicht kopflos«. Willkommen in der Wirklichkeit.

Die Grünen haben für den Fall einer Regierungsbeteiligung ein Sofortprogramm für die ersten 100 Tage beschlossen. Was sind Ihre wichtigsten Botschaften?
Neben unseren bekannten Positionen zur Fortsetzung des Atomausstiegs unter anderem eine Reihe sozialpolitischer Forderungen. So die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, die Anhebung der Regelsätze bei Hartz IV, die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener. Beim Klimaschutz geht es um die Änderung des Bundesemissionsschutzgesetzes, damit die Genehmigung von Kohlekraftwerken unmöglich wird. Außerdem wollen wir erreichen, dass die Politik der Ausbürgerung beendet, sprich: die doppelte Staatsangehörigkeit wieder zugelassen und der Optionszwang abgeschafft wird.

Das führt zurück zur Frage: Warum kommen Parteien häufig so spät zur besseren Einsicht, wollen erst in der Opposition das besser machen, was sie zuvor in einer Regierung versäumt haben?
Das lasse ich für uns so nicht gelten, ich verweise auf den Atomausstieg. Nachdem wir ihn durchgesetzt haben, kämpfen wir nun dafür, dass er nicht rückgängig gemacht wird. Wir wollen, dass der von uns begonnene Ausbau erneuerbarer Energien voranschreitet. In der Regierung wie in der Opposition haben wir dafür gekämpft, dass Schluss gemacht wird mit der Diskriminierung von schwulen und lesbischen Lebensbeziehungen. Wir haben auf der Oppositions- wie auf der Regierungsbank dafür gestritten, dass jeder, der hier geboren wird, als Deutscher zu behandeln ist. Dass wir dann zusätzliche Regelungen mit dem Optionszwang im Bundesrat akzeptieren mussten, war ein Rückschlag. Dieses versuchen wir jetzt wieder vom Tisch zu bekommen.

Ihre Partei bewirbt Sie als »Mr. Atomausstieg«. Recht forsch angesichts der Tatsache, dass in sieben Jahren Rot-Grün nur die beiden ältesten AKW abgeschaltet wurden.
Es wurden drei AKW stillgelegt, neben Stade und Obrigheim auch Mülheim-Kärlich. Dass Biblis und andere noch nicht abgeschaltet sind, hat eine einfache Ursache. Sie sind zur Zeit nur außer Betrieb, weil die Betreiber auf einen schwarz-gelben Wahlsieg hoffen. Wenn Schwarz-Gelb die Wahl verliert, fliegen die nächsten sieben ältesten AKW vom Netz. Das, finde ich, ist eine anständige Bilanz.

Es gibt andere Beispiele: Zwischen 1998 und 2005 hat Rot-Grün den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt, jetzt fordern die Grünen wieder eine Anhebung auf 45 Prozent. Rot-Grün beschloss Hartz-IV-Regelsätze, die mittlerweile auch von den Grünen als ärmlich betrachtet werden.
Wir haben das steuerfreie Existenzminimum unter Rot-Grün fast verdoppelt, den Eingangssteuersatz von 23 auf 15 Prozent gesenkt. Im Ergebnis zahlt die untere Hälfte der Gesellschaft heute faktisch keine Einkommenssteuer mehr. Beim Spitzensteuersatz hielten die Grünen eine Absenkung auf 42 Prozent nicht für richtig. Wir mussten dieses Zugeständnis im Bundestag machen, weil es anders für das Gesamtpaket keine Mehrheit im Bundesrat gab. Nun treten wir nicht für solche Kompromisse an, sondern für das, was wir auch 1998 gefordert haben, nämlich 45 Prozent.

Ähnliches gilt bei Hartz IV. Wir wollten die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die hat nicht nur viele Sozialhilfebezieher, sondern auch viele Bezieher von Arbeitslosenhilfe besser gestellt. Wir sind aber mit unserer Vorstellung für das Schonvermögen und einen höheren Regelsatz nicht durchgedrungen. Heute redet die FDP davon, sie wolle das Schonvermögen verdreifachen, also das herbeiführen, was wir Grüne beantragt und die FDP damals im Bundesrat blockiert hat.

Ich will aber offen einen Fehler einräumen: Das war die Erlaubnis steuerfreier Veräußerungsgewinne. Da haben die Champagnerkorken an der Frankfurter Börse geknallt. Zum Glück wurde dieser Fehler später durch die Abgeltungssteuer korrigiert.

Unsere Gesprächsserie zur Bundestagswahl wird am Sonnabend mit einem Interview mit Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag, abgeschlossen.

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