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Die Quadratur des Kreises

RICHARD VON WEIZSÄCKER ÜBER DIE DEUTSCHE EINHEIT

  • Hans Modrow
  • Lesedauer: 6 Min.

Drei Bilder, drei Ereignisse tauchen in meiner Erinnerung auf, wenn sein Name fällt. Da ist jener Auftritt im Deutschen Bundestag, als er anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Hitlerfaschismus den 8. Mai 1945 Tag der Befreiung nannte. Das war seinerzeit für den politisch aufgeklärten Teil der Bundesrepublik geradezu ein Akt der Befreiung, für den anderen, größeren, jedoch Blasphemie. Bis heute scheuen sich führende Politiker unseres Landes, Begriffe wie »Antifaschismus« oder »kommunistischer Widerstand« zu benutzen. Es wurde nicht zum Gemeingut, was der Bundespräsident damals sagte, wenngleich man sich gern mit seiner Rede schmückt und daraus bisweilen zitiert, mindestens aber auf sie verweist.

Das zweite Bild: Er und Honecker im September 1987 im Garten der Villa Hammerschmidt in Bonn. Die Staatsoberhäupter der beiden deutschen Staaten, in gehöriger Distanz zur Presse und zur Öffentlichkeit, schreiten Seit’ an Seit’ über sattes Grün. Sie reden, tauschen sich unaufgeregt aus. Ein normaler Vorgang, der einzig dadurch so ungewöhnlich und bemerkenswert war, weil er bis dahin noch nie stattgefunden hatte.

Drittens schließlich der Sonntag nach der Grenzöffnung. Der Bundespräsident überschreitet am 12. November 1989 die Staatsgrenze zur DDR am Potsdamer Platz in Berlin und dankt den DDR-Grenzern per Handschlag. Früher als andere begriff von Weizsäcker, welch großen Anteil diese Männer daran hatten, dass es Tage zuvor friedlich geblieben war – als ein fahriges Politbüromitglied, mit wachsender Arroganz und verantwortungsloser Einmischung in staatliche Entscheidungen, auf einer Pressekonferenz das neue Reisegesetz für »ab sofort« gültig erklärte. Das hinderte später die Bundesrepublik nicht daran, eben jene DDR-Soldaten und -Offiziere zu ächten und zu verfolgen. Der Bundespräsident hatte jedoch im November ’89 in jeder Hinsicht eine Grenze überschritten und es mit seiner demonstrativen Geste vermocht, Sympathien auf DDR-Seite zu gewinnen. Das umso mehr, als in jenen Tagen kein Spitzenpolitiker der DDR sich zu einer solchen Geste der Dankbarkeit aufschwang. Die Grenzer waren am 9. November von ihrer Führung allein gelassen worden. Sie blieben es auch danach.

Der heute 89-jährige Richard von Weizsäcker hat in seiner Amtszeit als Bundespräsident sichtbar Akzente gesetzt. Mit ihnen bewies er staatsmännische Souveränität und Größe, die ihn aus der politischen Klasse merklich heraushoben, der er zugehört. Und weil dies so ist, wird ihn der Verlag gebeten haben, zu den einschlägigen Jubiläen ein Manuskript zu liefern. Ein anderer Staatsmann lieferte den Klappentext. Er sei dem Autor »dankbar, dass er dieses sehr persönliche, bewegende Buch geschrieben hat«, teilt der 90-jährige Helmut Schmidt mit. Und ich, ein 81-jähriger ehemaliger Ministerpräsident, wurde vom »Neuen Deutschland« gebeten, dazu meine Meinung zu sagen.

Nun, es werden natürlich keine spektakulären Neuigkeiten mitgeteilt. Es ist auch kein persönliches Buch. Und es ist hier oft von der »Macht der Geschichte« die Rede, als hätten nicht konkrete Menschen und Personengruppen mit sehr klaren Vorstellungen ihre Interessen durchzusetzen versucht, sondern irgendwelche mystischen Kräfte. Es wäre albern, einem gebildeten Vertreter des Bürgertums vorzuhalten, dass er wie ein bürgerlicher Historiker urteilt, also einzelne Ereignisse nicht in ihrer Kausalität und im Kontext größerer Zusammenhänge beurteilt, sondern sie gleichsam als singuläre Vorgänge wahrnimmt. Das alles möchte ich dem Autor nicht vorhalten, weil ich ihn persönlich sehr schätze, und ein Druckwerk, auf dem sein Name steht, nicht zum Gradmesser seiner Intelligenz und seiner moralischen Integrität erklären will.

Stattdessen möchte ich an eine Begebenheit erinnern, die sich nicht in diesem Buch findet. Ende Dezember 1989 lud der damalige Konsistorialpräsident Manfred Stolpe sowohl den Bundespräsidenten als auch den DDR-Ministerpräsidenten nach Potsdam in die Nikolaikirche zum Weihnachtssingen ein. Das hatte insofern eine pikante Note, als von Weizsäcker im Herbst 1938 ins Potsdamer Infanterie-Regiment Nr. 9 eingetreten war, mit dem er am 1. September 1939 in Polen einmarschiert ist. Er war bis April ’45 dabei, brachte es bis zum Hauptmann der Wehrmacht und konnte noch im gleichen Jahr ein Jura-Studium in Göttingen beginnen, während ich vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft darüber nachdenken durfte, ob dies eine angemessene Zeit für einen 17-jährigen pommerschen Lehrling war, der lediglich ein paar Tage ein Gewehr getragen und nie geschossen hatte. Fast schien mir unser beider Biografien exemplarisch zu sein für Ost- und für Westdeutsche und deren gravierende Unterschiede.

Solche Gedanken gingen mir also durch den Sinn, während wir uns gemeinsam an den herrlichen deutschen Weihnachtschorälen in der Nikolaikirche erfreuten. Danach fuhren wir nach Schloss Cecilienhof. Dort hatten im Sommer 1945 die Siegermächte der Antihitlerkoalition über die Nachkriegspolitik gesprochen und ein Abkommen geschlossen. Nun redeten wir Nachkriegspolitiker an historischem Ort darüber, wie es mit den zwei Deutschländern, die ja die Folge dieses Potsdamer Abkommens waren, weitergehen könnte oder sollte.

Wir beide waren uns unserer Machtlosigkeit bewusst. Sein präsidiales Amt erlaubte keinen Eingriff in Kohls Geschäfte, während ich und meine Regierung zunehmend von den Ereignissen auf der Straße und dem Diktat aus dem Westen bestimmt wurden. Der Potsdam-Besuch von Richard von Weizsäcker war als privat deklariert worden. Was er natürlich nur fürs Protokoll war. Er gab mir zu verstehen, dass er Kohls Hemdsärmligkeit ablehnte. Es war nicht nur seine vornehme Zurückhaltung, die die beiden Christdemokraten trennte. Kohl war Machtpolitiker, ein williger Vollstrecker des Willens der tatsächlich herrschenden Kreise seines Landes. Er war der Mann fürs Grobe. Von Weizsäcker hingegen, ganz Aristokrat, besaß ein feines Gespür für Menschen und deren Empfindungen. Er war einerseits sensibel genug, um zu merken, dass die Mehrheit der Menschen in West wie Ost mental derzeit noch meilenweit von der Vorstellung einer »deutschen Einheit« entfernt war. Andererseits schien er der festen Überzeugung, dass diese kommen werde. Irgendwann, in ferner Zukunft. Uns sei aufgegeben, diesen langwierigen, komplizierten Prozess behutsam zu gestalten.

Nun kannte er jedoch seine ehemaligen Kollegen auch. Richard von Weizsäcker hatte schließlich bei Mannesmann gearbeitet, danach im Bankhaus Waldthausen und schließlich beim Pharmakonzern Boehringer, ehe er in die Politik ging. Er wusste um deren Hunger nach Absatzmärkten und Produktionsstandorten. Ich bin mir sicher: Ihm war die Quadratur des Kreises bewusst, die er mir damals, vorweihnachtlich hochgestimmt, an historischer Stätte beschrieb.

Gleichwohl, er spielte nicht nur den Verständnisvollen, er war es auch. Das nahm mich für ihn ein, weshalb wir uns auch später, als er bereits in Berlin im Schloss Bellevue residierte, ab und an trafen. Privat natürlich, wie damals in Cecilienhof. Irgendwann, inzwischen ohne Amt, bezog er als Nachbar von Lothar de Maizière, der dort vis-à-vis vom Pergamonmuseum eine Rechtsanwaltskanzlei betrieb, ein Büro. Das führte dazu, dass er gelegentlich Bücher sichtete, die vor der Humboldt-Universität angeboten wurden. Die Büchertische standen keine fünf Minuten vom Kupfergraben entfernt, doch die Nachricht lief schneller als er selbst, als er einmal ein bereits vergilbtes Buch erwarb. Ein Verlag hatte eben jenes Foto, das ihn und Honecker 1987 im Garten der Villa Hammerschmidt zeigte, auf den Titel von Honeckers »Moabiter Notizen« gesetzt.

Zum Schluss sei noch eine Empfehlung ausgesprochen: Lesen Sie das Buch der Tochter Beatrice von Weizsäcker »Warum ich mich nicht für Politik interessiere«. Ebenso dick wie das ihres Vaters, aber fünf Euro billiger und mit vielen klugen Gedanken und Wahrheiten.

Richard v. Weizsäcker: Der Weg zur Einheit. C. H. Beck, München. 223 S., geb., 19,90 €.

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