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Kein Schindler

FRANZ KONRAD

  • Rudolf Scholz
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst vor wenigen Jahren konstatierte der namhafte Holocaustforscher Raul Hilberg, Verfasser der drei Bände umfassenden Dokumentation »Die Vernichtung der europäischen Juden«: »Wir wissen erst etwa zwanzig Prozent über den Holocaust.« Jürgen Hensel vom Jüdischen Historischen Institut Warschau pflichtete ihm unlängst bei: »Die entscheidende Etappe beim Schreiben der Geschichte des Holocaust haben wir noch vor uns.« Wie viel Wahrheit in diesen Aussagen steckt, belegt nun auch dieses Buch des Leipziger Verlegers und Autors Joachim Jahns.

Es hat eine dramatische Vorgeschichte. 2007 klagte der ehemalige Hauptmann der Schutzpolizei und SS-Hauptsturmführer Erich Steidtmann, der – wie Jahns herausfand – führend an der Liquidierung des Warschauer Ghettos beteiligt war, vor dem Leipziger Landgericht mit der Absicht, den im Querfurter Dingsda-Verlag veröffentlichten Lebensbericht »Ein ganz gewöhnliches Leben« von Lisl Urban verbieten zu lassen. Um die für die Existenz des Verlages bedrohliche Klage abzuwehren, sah sich Jahns zu umfangreichen Recherchen in bundesdeutschen Archiven gezwungen. Ihm fiel ein 67-seitiger, unveröffentlichter Augenzeugenbericht in die Hände, der brisantes Faktenmaterial zur Errichtung und Liquidierung des Warschauer Ghettos enthält. Dessen Verfasser ist der ehemalige Leiter der »Werterfassungsstelle«, SS-Hauptsturmführer Franz Konrad, der sogenannte »Ghettokönig«, der für die Beschlagnahmung und Plünderung des jüdischen Eigentums verantwortlich war.

Konrad hatte seinen Bericht im April 1945 in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft diktiert. Die Amerikaner ließen ihn in dem Glauben, ihn als Zeugen zum Nürnberger Prozess zu schicken, lieferten ihn jedoch, nachdem er sein gesamtes Wissen preisgegeben hat, an Polen aus, wo er 1952 gemeinsam mit dem »Henker von Warschau«, dem SS-General Jürgen Stroop, als Kriegsverbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt wurde – Tod durch Erhängen.

Der nun erstmalig veröffentlichte »Konrad«-Bericht ist ein Dokument von bestürzender Authentizität. Konrad, von Anfang an maßgeblich an der Errichtung des Ghettos beteiligt, gibt detailgenaue Insider-Kenntnisse zu Protokoll. Innerhalb des Ghettos betrieb er zahlreiche Betriebe, in denen zeitweilig 4000 jüdische Facharbeiter beschäftigt waren. Ein Oskar Schindler ist er nicht. Doch als die Selektionen und Transporte in die Vernichtungslager in ihre Endphase treten, stellt sich Konrad schützend vor »seine« Juden. Dem fanatischen Vollstrecker der Himmlerischen Vernichtungsbefehle Stroop verweigert er die Gefolgschaft. Trotz seiner bedingungslosen »Führer«-Ergebenheit zählt er zu den wenigen SS-Offizieren, die die Vorgänge im Ghetto kritisch reflektieren. Er ist sich bewusst, an schwersten Verbrechen beteiligt gewesen zu sein: »Ich werde alle Konsequenzen tragen.«

Jahns gibt den Bericht ungekürzt wieder. Zu den episodischen Skurrilitäten zählt, dass Konrad am Ende des Krieges auf Schloss Fischhorn, das in der vermeintlichen »Alpenfestung« liegt, in den Besitz des Koffers mit den persönlichen Hinterlassenschaften Adolf Hitlers und Eva Brauns gelangt und diese den Amerikanern aushändigt. Jahns machte auch etliche hochrangige Vorgesetzte Konrads ausfindig, die – wie der in der Gunst der Amerikaner stehende, in Bremen lebende Unternehmer und einstige »Reichskommissar für sämtliche Konzentrationslager« Kurt Becher – nie für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden sind.

Joachim Jahns: Der Warschauer Ghettokönig. Dingsda-Verlag, Querfurt. 230 S., geb., 24,80 €.

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