Alle aus einer Kinderstube

Bürger- und Großbürgerkinder dominieren das neue Kabinett – das hat Folgen für die Politik

  • Michael Hartmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der »Elitenforscher« Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der TU Darmstadt.
Der »Elitenforscher« Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der TU Darmstadt.

Der neuen Bundesregierung gehört mit Ronald Pofalla nur noch ein Arbeiterkind an. Ihm stehen gleich drei Kabinettsmitglieder gegenüber, die aus ausgesprochen großbürgerlichen Verhältnissen kommen: Thomas de Maizière, Ursula von der Leyen und Karl-Theodor zu Guttenberg. Das ist typisch für die generelle Veränderung in der Politik. Stammten bis zur Jahrtausendwende stets knapp zwei Drittel der Regierungsmitglieder aus kleinbürgerlichen oder Arbeiterhaushalten, kommen jetzt zwei Drittel aus dem Bürger- und Großbürgertum.

Man kann nun denken: Was macht das schon? War es nicht das Arbeiterkind Gerhard Schröder, unter dessen Kanzlerschaft die tiefgreifendsten Einschnitte in die deutschen Sozialsysteme und die stärksten steuerlichen Begünstigungen von Reichen und Unternehmen beschlossen worden sind? Wer an der Spitze steht, das ist letztlich doch egal. Entscheidend sind die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und nicht die Personen. Eine solche Sichtweise ist allgemein zwar zutreffend, übersieht aber einen wesentlichen Aspekt: Die Eliten treten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst als mächtige Akteure auf, treiben Entwicklungen voran oder bremsen sie. Die soziale Rekrutierung der politischen Elite ist insofern alles andere als egal.

Wie wichtig sie ist, zeigt ein Blick in die USA. Dort gab es zwischen 1945 und 1980 keine Regierung, deren zentrale Positionen nicht zu mindestens 60 Prozent von Kindern aus den breiten Mittelschichten oder der Arbeiterschaft bekleidet wurden. Mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan Ende 1980 änderte sich das schlagartig. Die Kinder aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien bildeten von da an bis zum Amtsantritt von Barack Obama immer die Mehrheit. Unter Reagan und George Bush Senior stellten sie sogar bis zu vier Fünftel der Minister.

Zeitgleich mit dieser personellen Veränderung erfolgte auch eine tiefgreifende Veränderung der Einkommensverhältnisse. Bis 1980 waren die Einkommen für US-Verhältnisse relativ ausgeglichen verteilt, mit einem Anteil der oberen zehn Prozent von »nur« einem knappen Drittel. In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg er dann massiv auf knapp 50 Prozent. Das obere Zehntel erhielt 2008 fast genau so viel vom gesamtgesellschaftlichen Einkommen wie die unteren 90 Prozent. Damit war die Verteilung sogar noch ungleicher als 1929, im Rekordjahr des vergangenen Jahrhunderts. Maßgeblich für diese gravierende Verschiebung waren die Beschlüsse der seit 1980 amtierenden Regierungen, die den Spitzensteuersatz von 70 auf zeitweise unter 30 Prozent senkten, die Unternehmen in vielfältiger Weise begünstigten und zugleich bei den Sozialprogrammen massiv kürzten.

Etwas Ähnliches hat die deutsche Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren erlebt. Die Regierungen haben die Steuern für Unternehmen und Reiche massiv gesenkt und die Sozialleistungen gleichzeitig kräftig zusammengestrichen. Allein zwischen 1998 und 2002 sank die reale Steuerlast für die 60 reichsten Deutschen von 45 auf nur noch 32 Prozent. Verantwortlich dafür waren Kabinette, deren zentrale innenpolitische Ministerien seit dem Rücktritt des Bäckersohns Oskar Lafontaine nur noch von Bürgerkindern bekleidet wurden.

Das war schon unter Gerhard Schröder so. Otto Schilys Vater leitete ein Stahlwerk, die Väter von Hans Eichel und Peer Steinbrück waren Architekten, der von Wolfgang Clement Baumeister, der von Herta Däubler-Gmelin Diplomat und Oberbürgermeister und der von Brigitte Zypries Unternehmer. In der Großen Koalition änderte sich daran nichts. An die Stelle von Schily und Clement traten Wolfgang Schäuble, Sohn eines wohlhabenden Steuerberaters und einer Landtagsabgeordneten, und Karl-Theodor zu Guttenberg, Spross einer der reichsten Adelsfamilien des Landes.

Der neue Wirtschaftsminister Rainer Brüderle ist zwar nur der Sohn eines kleinen Selbständigen, dafür ist im Außenministerium ein Arbeiterkind durch einen Anwaltssohn abgelöst worden. Insgesamt bleibt die soziale Rekrutierung des Kabinetts gleich.

Das hat Folgen. Die Interessen und die Einstellungen der bürgerlichen Kreise prägen auch das Denken und Handeln ihrer einzelnen Mitglieder. Auch wenn es immer wieder Ausnahmen gibt, Marx und Engels sind nur zwei Beispiele, so gilt diese Regel doch im Durchschnitt. Die Auseinandersetzung um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird spürbar beeinflusst, wenn die Bürger- und Großbürgerkinder nicht nur die Eliten in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung dominieren, sondern auch noch die in der Politik. Die Lebenswirklichkeit von großen Teilen der Bevölkerung ist vielen Kabinettsmitgliedern allenfalls aus der Ferne bekannt. Ihre Sicht wird bestimmt von dem, was man in bürgerlichen Kreisen denkt, von der Einteilung der Gesellschaft in die Leistungsträger oben und die faulen Sozialschmarotzer unten. Die Kosten der Krise werden in den nächsten Jahren entsprechend verteilt, wie der Koalitionsvertrag jetzt schon andeutet. Die oben werden entlastet, die unten belastet.

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