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Ein Spagat zwischen Lob und Kritik

In der Debatte zum Leitantrag wird sich beim Dresdner Parteitag zeigen, ob die SPD dazugelernt hat

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 4 Min.
Niemand zweifelt, dass es ab heute in Dresden beim SPD-Parteitag heiß hergehen wird. Wie viel sich in der Debatte um den Ausweg aus der Krise der Partei allerdings denn doch in heißer Luft auflöst, wird sich am morgigen Samstag zeigen. Da nämlich haben die 525 Delegierten über den Leitantrag der Parteispitze zu befinden, der vielen Genossen jedoch nicht weit genug geht.

Nach hinten oder nach vorn diskutieren – das ist jetzt die Gretchenfrage bei der SPD. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat die in der ihm eigenen Behändigkeit schon für sich beantwortet. Er trat gestern unmittelbar vor Parteitagsbeginn die Flucht nach vorn an, indem er die Überprüfung der Rente mit 67 anheim stellte. Auch die künftige Parteivize Hannelore Kraft hat vor rückwärtsgewandter Debatte gewarnt. Kunststück: Sie braucht als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 eine halbwegs intakte SPD. Kraft fürchtet vermutlich, dass eine allzu kritische oder gar tabulose Aufarbeitung sozialdemokratischer Sündenfälle während der elfjährigen Regierungszeit, die letztlich zum Wahldesaster am 27. September geführt haben, nicht geeignet ist, das Erscheinungsbild der Genossen beim Wähler aufzumotzen. Auch Andrea Nahles, die heute Abend endlich am Ziel ihrer Wünsche und damit Generalsekretärin sein will, fürchtet ein Hauen und Stechen – und hat während ihrer inzwischen beendeten Good-Will-Tour an der Basis vorsorglich um einen Vertrauensvorschuss für die neue SPD-Führung gebeten.

Derlei Blankoschecks für die Zukunft sind allerdings vielen Sozialdemokraten inzwischen suspekt. Nicht nur Juso-Chefin Franziska Drohsel verlangt einen schonungslosen Blick zurück. In der »Leipziger Volkszeitung« sprach sie sich nicht nur für ein Bekenntnis zu begangenen Fehlern, sondern auch für deutliche Nachbesserungen des »in Teilen recht schwammigen Leitantrages« des Parteivorstandes aus. Die Jusos, die in ihrem Initiativantrag an den Parteitag für einen »radikalen Erneuerungsprozess« in der SPD streiten, die »schwere Krise« der SPD und deren »Glaubwürdigkeitsproblem« beim Namen nennen, von »strategischer Sackgasse« reden und »Entfremdung vom Wähler« und »verloren gegangenes Vertrauen« konstatieren, formulierten damit nur einen der insgesamt 340 Anträge, mit denen sich die Genossen am Wochenende befassen müssen.

Offenbar hat der zwischen alter und neuer Führung ausgehandelte Leitantrag doch nicht ganz den Nerv des Souveräns der Partei gefunden – auch wenn die Möchte-Gerne-Erben des bisherigen Parteichefs Franz Müntefering einer Trophäe gleich die nun schwarz auf weiß stehende Formulierung vor sich her tragen, die schwere SPD-Wahlniederlage bei der Bundestagwahl sei eine Zäsur. Im ursprünglichen Entwurf, den der Sprecher der Linken in der Partei, Mark Rackles, als »Erbstück von Müntefering« klassifiziert, war lediglich von einer »Wahlniederlage« die Rede – und das kleine aber wichtige Wörtchen »schwer« musste per Kampfabstimmung durchgesetzt werden.

Rackles spricht trotz dieses Sieges der Realisten im Vorstand – zumindest bei der Einschätzung des Wahlergebnisses über einen offensichtlich längst die Wirklichkeit ausblendenden Noch-Vorsitzenden – von fehlender Problemanalyse im Leitantrag. Und in der Tat konnte sich altes wie neues Führungspersonal nicht verkneifen, von »erfolgreicher Regierungsverantwortung« zu sprechen, in der die SPD »viel bewegt« und »viel erreicht« habe, auf das sie »stolz« sein könne. Dass an dieser Stelle explizit die Verdienste von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, Müntefering, Steinmeier, SPD-Ministerinnen und Ministern sowie der Bundestagsfraktion hervorgehoben werden, ist vermutlich dem Bemühen geschuldet, alle zu erreichen und keinen zurückzulassen. Und vor allem der offensichtlichen Absicht, bei aller Ursachensuche für den Verlust zehntausender Mitglieder und zehn Millionen Wählerstimmen keine Totalrevision der Agenda 2010 zuzulassen.

Dass dieser Spagat die Mehrheit der Delegierten überzeugen wird, kann der Vorstand nur hoffen. Vielleicht klappt es ja, weil der Leitantrag auch für die Kritiker des Regierungskurses Mancherlei bereithält. Denen werden Zugeständnisse gemacht, indem von der Notwendigkeit ehrlicher Bilanzierung die Rede ist – und davon, dass die Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung Kompromisse eingegangen sind, »die an unserer Glaubwürdigkeit gezehrt haben«. Wenn auch die Feststellung, dass die SPD bei den Wahlen der letzten Jahre »die stärksten Einbußen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie bei Arbeitslosen« hinnehmen musste, erst in die Neufassung des Leitantrages nach Diskussionen im Vorstand Eingang gefunden hat – sie ist Teil der schmerzhaften Bestandsanalyse, die viele SPD-Mitglieder für längst überfällig halten.

Auch unter den 300 Teilnehmern eines am letzten Wochenende in Kassel stattgefundenen Rebellentreffens gab es viel Unmut über die bisherige Verfahrensweise. Selbst der vom designierten Parteichef Sigmar Gabriel an die Basis verfasste Brief, in dem er die SPD in katastrophalem Zustand beschrieb, konnte die Gemüter nicht besänftigen. Sicherlich auch, weil dieses Treffen schon wieder von der Parteiführung mit Argwohn betrachtet und mit Abwertung bedacht worden war. Dabei steht im Leitantrag, dass »an der Neuaufstellung« der Partei alle Ebenen beteiligt werden sollen. »Unser Weg in die Zukunft darf nicht von wenigen gedacht werden, dem dann viele zu folgen haben«. Aber offensichtlich sieht auch das neue Spitzenduo der Partei in seinem Kniegang in die Landesverbände schon hinreichend praktizierte innerparteiliche Demokratie. Kassel jedenfalls hat es gemieden.

Ob bei der eingangs erwähnten Steinmeierschen Lockerung für die Rente mit 67 in Dresden denn wirklich auch Nägel mit Köpfen gemacht werden, bleibt abzuwarten. Die Möglichkeit dafür existiert. Ein Antrag aus Bayerns SPD jedenfalls fordert, das Rentenalter wieder zu senken ...

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