Konsequent für den Markt

Ein Kurswechsel der Sozialdemokratie ist aus historischer Perspektive unwahrscheinlich

  • Edelbert Richter
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Edelbert Richter
Edelbert Richter

Natürlich wäre es schön, wenn die SPD ihren bisherigen Kurs korrigieren würde. Ich bin allerdings skeptisch, wie weit ihr das gelingen kann. Denn angesichts dessen, was wir in der Zeit ihrer Regierung bzw. Mitregierung erlebt haben, müsste sie ja geradezu eine Umkehr vollziehen. Hinzukommt, dass die Politik, die sie in diesen Jahren gemacht hat, keineswegs so erschreckend neu war, wie sie vielen erschien, sondern in gewisser Hinsicht durchaus ihrer eigenen Tradition entsprach. Sie müsste sich zugleich von einer langen Tradition der Marktgläubigkeit verabschieden!

Erinnern wir uns zunächst, was wir im letzten Jahrzehnt erlebt haben. Es begann nach dem Ausscheiden Oskar Lafontaines mit dem Übergang zu einer Haushaltssanierung, die nicht nur sozial ungerecht war, sondern auch auf Kosten von Wachstum und Beschäftigung ging. Dann kam das Schröder-Blair-Papier, das ohne jede innerparteiliche Diskussion und ohne Absprache mit den französischen Sozialisten als wegweisend für Europa in die Welt gesetzt wurde. Der Text wurde von der FDP fast wörtlich übernommen und als Antrag in den Bundestag eingebracht! Man denke auch an die völlige Steuerbefreiung für Entäußerungsgewinne von Kapitalbeteiligungen. Oder die Rentenreform, die im Grunde der Belebung des Kapitalmarkts diente, und zwar eines Kapitalmarkts, dessen Zusammenbruch sich im Jahre 2000 schon abzeichnete.

Es wird nur vorübergehend sein, dachte man immer noch, bald wird sie zu den Grundwerten zurückfinden. Bei den Wahlen 2002 schien das auch der Fall zu sein. Aber dann, mit der Agenda 2010, kam der Verdacht auf, dass hinter all dem eine Methode stecken könnte: Gerade, dass das treue Parteimitglied und der Stammwähler Sozialabbau bei der SPD nicht für möglich hielten, machte ihn möglich! Ehe der Wähler überhaupt glauben konnte und richtig begriff, was da entschieden wurde, waren schon vollendete Tatsachen geschaffen. Dies, dass eine linke Regierung bei der gutgläubigen Bevölkerung auf weniger Widerstand stößt als eine konservative Regierung, ist wohl der Grund für die Paradoxie, dass auch in anderen Ländern (Neuseeland, Peru, Brasilien) die weitreichendsten neoliberalen »Reformen« gerade von Sozialdemokraten in Gang gesetzt wurden.

Eine letzte Möglichkeit, sich die Dinge zurechtzulegen, bestand für die WählerInnen dann darin, dass sie sich sagten: Wenn sogar die Sozialdemokratie zu solchen Maßnahmen greift, dann müssen sie notwendig sein, dann gibt es tatsächlich keine Alternative mehr. Und die Notwendigkeiten, denen sie gehorchen musste, waren ja lange bekannt: die des Standortwettbewerbs, der »Globalisierung«. Allerdings war das nun schon eine Treue, die an Selbstverleugnung grenzte, wie die zu einem Partner, der ständig fremdgeht. Oder heroisch wie die Treue zu einem, der beharrlich am eigenen Untergang arbeitet! Denn wenn es wirklich diese schicksalhafte Notwendigkeit gab, dann war die Sozialdemokratie ja erledigt, dann existierten auch die anderen Parteien nur noch als Schatten, war folglich die Demokratie überhaupt am Ende. Genau davon, dass es Alternativen, Wahlmöglichkeiten, Freiheitsspielräume gibt – und zwar nicht nur in Randfragen –, lebt sie bekanntlich.

Die SPD hat damit aber nur eine Marktgläubigkeit auf die Spitze getrieben, der maßgebliche Teile von ihr schon fast ein halbes Jahrhundert anhingen. Insofern kam das, was unter Schröder geschah, eben doch nicht völlig überraschend. In der Weimarer Republik und noch in der Nachkriegszeit war die SPD davon ausgegangen, dass der deutsche organisierte Kapitalismus durch Ausbau der Wirtschaftsdemokratie in eine sozialistische Planwirtschaft überführt werden könne.

In den 50er Jahren jedoch schwenkte sie unter dem Eindruck des »Wirtschaftswunders« auf das amerikanische Kapitalismusmodell ein, sah daher in der deutschen Verschmelzung von Großindustrie und Großbanken das Hauptproblem und wollte für mehr Wettbewerb sorgen. Dabei rückte die positive Seite des Marktes so in den Vordergrund, dass von sozialistischer Planung nun gar keine Rede mehr war. Entsprechend wurde im Godesberger Programm (1959) »Sozialismus« nicht mehr als geschichtliches Ziel, sondern nur noch ethisch als »dauernde Aufgabe« verstanden. Logischerweise wurde der Markt damit aber zu einer dauernden, gleichsam ewigen Gegebenheit! »Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig« war die Parole. Schon damals bemerkten kritische Geister, die SPD sei der CDU ja zum Verwechseln ähnlich geworden.

Aber das war noch gar nicht der springende Punkt. Denn in mehreren politischen Entscheidungssituationen trat die SPD sogar konsequenter für das Marktprinzip ein als die CDU/CSU! So nahm sie schon in der großen Debatte um das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1957) für Ludwig Erhard und gegen die Mehrheit von CDU/CSU Partei. Ende der 70er Jahre bereitete die sozial-liberale Koalition ein Entflechtungsgesetz vor, dessen Verabschiedung nur durch den Regierungswechsel 1982 verhindert wurde. Anfang der 80er Jahre gab es unter Helmut Schmidt auch schon ein Sparpaket mit der Begründung, die Sozialleistungen würden missbraucht. Dass dann 1999 die Veräußerungsgewinne bei Kapitalbeteiligungen völlig von Steuern befreit wurden, wurde oben schon erwähnt. Ziel war die Öffnung der Deutschland-AG für den Weltfinanzmarkt.

Man muss allerdings einräumen: Die Neuorientierung am amerikanischen Kapitalismus fiel der SPD zunächst insofern nicht schwer, als umgekehrt die USA infolge der Großen Depression auch von Europa gelernt hatten, indem sie zu Ansätzen von Sozialstaatlichkeit und zu keynesianischer Steuerung der Wirtschaft übergegangen waren. Sie huldigten ja selber nicht mehr dem Laisser-faire, sondern einem »Konsensliberalismus«. Was würde aber aus der SPD werden, wenn die USA diese Position wieder verließen, wie es unter Reagan in der Tat geschah? Jetzt begann die neoliberale Epoche, d. h. die USA griffen auf ihren alten rigorosen Liberalismus der Zeit vor Franklin D. Roosevelt zurück. Ihren Einfluss auf Deutschland vorausgesetzt, so musste daraufhin die SPD sich von der Macht verabschieden.

Wollte sie aber wieder an die Macht kommen, dann nur unter der Voraussetzung, dass sie sich den neuen Rahmenbedingungen fügte, zumal der neoliberale Glaube mit dem Ende des realen Sozialismus inzwischen seinen größten Triumph erlebt hatte. Das hat Gerhard Schröder erkannt und Lafontaine verkannt. Das Dumme war nur: Indem die SPD nun immer noch an den USA orientiert blieb, verlor sie vollständig ihre Identität. Es ist viel zu wenig bekannt, dass gerade Hartz IV eine Nachahmung der amerikanischen Sozialhilfe ist, die schon 1988 und noch einmal unter Clinton zu einer Eingliederungshilfe in den Arbeitsmarkt umgestaltet wurde. Sie wurde imitiert, obwohl man schon in den USA festgestellt hatte, dass mit ihr nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, nur das Lohnniveau gesenkt wird.

Und was das Entscheidende ist: Hartz IV widerspricht der Grundeinsicht, der die Sozialdemokratie überhaupt ihre Existenz verdankt: dass Arbeitslosigkeit und andere Notlagen eben nicht primär individuell-moralische, sondern sozial-ökonomische Ursachen haben. Die Partei, die einst die Menschen ermutigt hat, gibt ihnen heute zu verstehen, sie seien an ihrer Not im Grunde selbst schuld, und demütigt sie damit.

Dr. Edelbert Richter, 1943 geboren, ist Theologe und Gründungsmitglied der Partei Demokratischer Aufbruch. Von 1990 bis 2005 war er Mitglied der SPD; dort gehörte er der Grundwertekommission des Parteivorstands an. Zwischen 1990 und 2002 war Edelbert Richter Mitglied des Europäischen Parlaments und des Bundestags. 2007 trat er in die LINKE ein. Zuletzt veröffentlichte er im VSA-Verlag »Die Linke im Epochenumbruch – Eine historische Ortsbestimmung«.

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