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Islam, Hybris, Nanny, Schock

Medien(-)Welt II

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf den Seiten des Online-Dienstes AOL konnte man sich gestern durch eine Fotostrecke klicken, die »schockierende Bilder« versprach. Zu sehen war ein Potpourri diverser Schrecklichkeiten: Kunstblutgetränkte Proteste gegen die Pelz-Industrie, Aufnahmen von Flugzeugabstürzen, Fotos von Massakern. An erster Stelle in der Galerie stand allerdings ein aktuelles Foto aus der Schweiz: ein Plakat der Minarett-Gegner vor verschneiter Dorfsilhouette.

Schockierend? Für wen? Geschockt sind nach dem Erfolg der Anti-Minarett-Initiative in der Schweiz in erster Linie die Medien. Die Schockwellen waren gestern auch am zweiten Tag nach dem Ausstieg der Schweiz aus der Tradition christlich-abendländischen Toleranzverständnisses zu spüren. Das hat viel mit Verunsicherung der Journalisten zu tun. Vor der Abstimmung in der Schweiz war man sich dort nämlich gewiss, dass die Mehrheit der Eidgenossen den rechten Islam-Gegnern eine Abfuhr erteilen werden.

Entsprechend oberflächlich habe man sich in den Schweizer Medien mit den Argumenten der Minarett-Gegner auseinandergesetzt, merkte gestern die Neue Züricher Zeitung (NZZ) selbstkritisch an. Die Medien hätten nicht so genau hingeschaut, weil sie angenommen hätten, dass letztlich die Vernunft bei diesem Thema obsiegen werde, heißt es in der NZZ.

Vielleicht ist es aber noch schlimmer: Die Medien haben sich deshalb nicht eingehender mit den Ängsten und Ressentiments beschäftigt, weil sie sich längst nicht mehr als Instanz der Aufklärung verstehen. Die Welt der Journalisten ist nicht mehr die ihrer Leser, Zuhörer und Zuschauer.

Das ist nicht unbedingt nur die Schuld der Journalisten, denn für die Existenz paralleler Gesellschaften, die kaum noch miteinander im Kontakt stehen, können sie nichts. Sie können aber etwas dafür, dass sie dieses Auseinanderdriften sozialer Milieus kaum noch als eigenes Problem benennen. Wer in Berlin im ARD-Hauptstadtstudio oder bei einer der großen Zeitungen arbeitet, blickt mit einer gewissen Distanziertheit aus dem aus Politikern, Medienschaffenden, sogenannten Kreativen und Wirtschaftslobbyisten bestehenden Mikrokosmos auf die da draußen. Wenn die Bewohner außerhalb dieser Käseglocke ihre Kinder nicht richtig erziehen, schickt man ihnen die »Super-Nanny« vorbei, man empört sich über die »Kopftuch-Mädchen« produzierenden Neuköllner Türken und prangert das von der schwarz-gelben Bundesregierung geplante Betreuungsgeld als »Saufprämie« für die sozialen Unterschichten an – journalistische Hybris anstelle von Empathie.

Dabei sickert die Welt des urbanen Lumpenproletariats durchaus auch in die der Medien-Bohème ein. Die NZZ spricht anhand des aktuellen Schweizer Falls journalistischer Realitätsverweigerung von »digitalen Parallelgesellschaften«, die durch das Internet im Umfeld der klassischen Medienanbieter entstanden seien.

Wenn Journalisten Online-Artikel veröffentlichen, so die NZZ, treten sie damit oftmals im Internet Debatten los, die ein »emotionales Eigenleben« entwickeln, wenn es um Themen wie Ausländer, Kriminalität oder Islam geht. Diese würden von den Journalisten jedoch kaum registriert, geschweige denn zum Gegenstand ihrer Berichterstattung.

In der Tat sind die Online-Ausgaben der klassischen Medien so etwas wie eine Fieberkurve der Anti-Aufklärung. Sie sagen mehr über Stimmungen, Verstimmungen in der Bevölkerung aus als die meisten Meinungsumfragen.

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