Mit dem Bürgeretat durch die Lande

Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (LINKE) über eine gefragte Lichtenberger Erfahrung

  • Lesedauer: 5 Min.
Die gebürtige Leipzigerin Christina Emmrich ist seit 2002 für die Linkspartei Bürgermeisterin im Berliner Bezirk Lichtenberg. Im Jahr 2004 wurde dort der erste Bürgerhaushalt Berlins eingeführt.
Mit dem Bürgeretat durch die Lande

ND: Sie bekommen Anfragen aus aller Welt. Wo waren Sie schon überall, um über den Bürgerhaushalt zu sprechen?
Emmrich: Die Zeit fehlt, um alle Einladungen anzunehmen. Ich war in Frankreich und in Spanien. Jetzt hatten wir Niederländer und Belgier da. Nächste Woche kommen Japaner. Wir sind von der Weltbank eingeladen worden. Ich könnte einen großen Teil meiner Arbeitszeit damit verbringen durch die Lande zu reisen.

Allerdings nimmt es auch in der Bundesrepublik zu. Ich habe gerade wieder aus Göttingen eine Anfrage. In Köln habe ich vor der Stadtversammlung gesprochen. Es gibt ein großes Interesse, insbesondere auch deshalb, weil Lichtenberg, obwohl es eine nicht selbstständige Kommune ist, mit seinen 250 000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine Großstadt ist. Bisher gab es Bürgerhaushalte immer in kleineren Kommunen. Als Kollegen aus den Niederlanden und einige belgische Kommunalpolitiker selber an Stadtteilkonferenzen teilgenommen haben, wunderten sie sich, dass es uns so gut gelingt, Bevölkerung zu interessieren. Ich höre von vielen, dass das mittlerweile für sie ein Markenzeichen unserer Kommunalpolitik ist. Partizipation und Mitsprachemöglichkeiten zeichnen Lichtenberg aus.

Welche Botschaft nehmen Sie mit, wenn sie eingeladen sind?
Wir können den Bewohnerinnen und Bewohnern unserer Städte und Gemeinden viel mehr zutrauen als wir es üblicherweise tun. Und wir müssen überhaupt keine Angst davor haben, dass sie Vorschläge und Vorstellungen jenseits von Finanzierbarkeit entwickeln. Die Bürger sorgen sich sehr und kümmern sich um ihr direktes Umfeld. Das ist auch die Legitimation für unsere eigene Arbeit. So können wir vielleicht auch die Politikverdrossenheit ein wenig überwinden.

Derzeit geht der fünfte Bürgerhaushalt auf die Zielgerade. Wie sieht es mit der Beteiligung aus?
Auf der Homepage für den Bürgerhaushalt haben wir 2005 angefangen mit 9730 Zugriffen. Im letzten Jahr waren es 220 000. Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor Ort haben wir angefangen mit 595 und sind dieses Jahr bei 3605. Das ist natürlich gemessen an der Gesamtbevölkerung ein Anteil von nur über einem Prozent. Aber es zeigt deutlich das Anwachsen und dass Interesse da ist. Wir haben alleine eine Verdoppelung der Zahlen seit dem vergangenen Jahr.

Wieso sprechen Sie die Menschen jetzt mehr an als anfangs?
In den ersten zwei Jahren war es eher eine Top-Down-Strategie. Wir als Verwaltung haben gesagt: »Wir finden das gut, und wir müssen die Bevölkerung interessieren.« Jetzt sind es insbesondere die Soziokulturellen Zentren, Bürgervereine, Kiezbeiräte, die uns sagen: »Ihr könnt euch zunehmend aus dem Prozess rausziehen. Sagt uns einfach die Rahmendaten.« Wir werden also jetzt aus dem Prozess rausgetragen, was ja unser eigentlicher Ansatz ist.

Woher kam die Idee zu einem Bürgerhaushalt im Bezirk Lichtenberg?
Es gab 2004, insbesondere durch den LINKE-Abgeordneten Peter Zotl, die Idee, zu versuchen, ob in einer Großstadt ein Bürgerhaushalt möglich ist. Auch die Zentrale für politische Bildung war sehr interessiert. Nachdem der Bezirk Mitte sich dagegen entschieden hatte, haben wir gesagt: Wir machen's. Anfangs war die Begeisterung noch nicht sehr groß. Die Linkspartei hatte hier 2004 die absolute Mehrheit. Alle Vorurteile, die gegen uns in der Welt waren, haben in den Gesprächen indirekt gewirkt. Vielleicht war ich auch manchmal ein bisschen empfindlich ...

Die Hochschule für Verwaltung in Speyer hat den Prozess evaluiert, und wir haben überall sehr gute Noten bekommen. Seitdem haben wir unseren Ruf auf dem Gebiet und werden eingeladen. Das ist auch für die LINKE ein Beweis, dass wir basisdemokratisch arbeiten wollen und können.

Um wie viel Geld geht es im Bürgerhaushalt?
Wir haben entschieden, dass wir die steuerbaren Ausgaben nehmen. Es sind etwa 30 Millionen Euro, über die diskutiert werden kann. Es wird aber jetzt offensichtlich, dass es den Leuten gar nicht so sehr um den einzelnen Euro geht, sondern dass sie lieber über Schwerpunkte diskutieren.

Was war für Sie ein herausragendes Projekt, das mit dem Bürgerhaushalt umgesetzt wurde?
Für mich ist eines der wichtigsten Projekte das Angebot von muttersprachlicher Literatur in Russisch und Vietnamesisch in den Bibliotheken des Bezirks. Eine wichtige Sache, die wir vor zwei Jahren gemacht haben. Der Vorschlag wurde aber nicht nur von den Vietnamesen selber unterstützt. Sie haben in dem Jahr die meisten Stimmen bekommen. Und das hieß, dass von den deutschen Beteiligten die überwiegende Mehrheit dafür war. Das ist das Schöne und das Bedeutende an diesem Beispiel.

Wo muss der Bürgerhaushalt verbessert werden?
Wir müssen die Stadtteilversammlungen nutzen, um auch deutlicher zu machen, dass Mehrausgaben an einer Stelle zu weniger Mitteln an anderer Stelle führen. Der Bürgerhaushalt bringt nicht mehr Geld. Zweitens, wenn ich mir die Zielgruppen ansehe, dann sind junge Familien absolut unterrepräsentiert. Das ist aber auch unsere eigene Dusseligkeit, denn wenn ich eine Stadtteilversammlung von 18 Uhr bis 21.30 Uhr mache, dann ist das genau in der Zeit, in der die junge Familie zu Hause ist und nicht woanders hinkann. Oder wenn ich meine, dass zu wenig Migranten dabei sind, was stimmt, und ich sehe, dass die Vietnamesen, die bei uns zu gut 60 Prozent Händler und Gewerbetreibende sind: Die haben zu genau dieser Zeit ihre Läden auf. Wir schließen so Leute aus, die wir ins Boot holen wollen. Wir müssen uns dahin begeben, wo die Leute sind, und nicht erwarten, dass alle kommen, wenn wir es festgelegt haben.

Wie viele Vorschläge werden von der BVV umgesetzt?
In den letzten Jahren sind immer rund 90 Prozent der Vorschläge von der BVV akzeptiert worden. Ablehnungen gab es aus ganz unterschiedlichen Gründen. Beispielsweise Tütenspender für Hundekot wurden abgelehnt. Das hatten wir schon ausprobiert, es ist nicht gut gelaufen. Und, in diesem Jahr gab es den Vorschlag, weitere Stadtteilzentren einzurichten, da ist die BVV nicht mitgegangen.

Wie stehen Sie in Berlin mit den Bürgermeisterkollegen in Kontakt?
Ich finde es gut, dass die Bezirke ein unterschiedliches Herangehen praktizieren. Jeder guckt, »was ist für meinen Bezirk passend, wie komme ich hier an meine Leute ran?« Die Papiere schicken wir uns gegenseitig zu. Insofern ist das eher ein indirekter Erfahrungsaustausch.

Fragen: Jörg Meyer

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