nd-aktuell.de / 05.12.2009 / Kommentare / Seite 21

»... NOBELPREISwürdig ...«

Die Deutschen und der Osten: »Boehlendorff und Mäusefest« von Johannes Bobrowski

Horst Nalewski

Hätte man diesen Preis dem 1965 Verstorbenen postum zusprechen können? Der Schriftsteller und Kritiker Werner Kraft (1896-1991) schrieb am 20.1.1979 in Jerusalem in sein Tagebuch: »Am Vormittag geblättert in alten Jahrgängen der ›Neuen Rundschau‹ ... Dabei stieß ich auf die nie gelesene Erzählung ›Das Mäusefest‹. In der Nacht ging mir ein imaginärer Brief an den Toten durch den Kopf, in dem ich ihm mitteilte, dass und warum ich die Absicht habe, ihn wegen dieser Erzählung für den Nobelpreis vorzuschlagen.«

Nun sollte man die kleine, nur vier Seiten umfassende Erzählung aus dem Jahr 1962 sofort und zuerst und abermals lesen, denn sie lässt sich mit dürren Worten kaum wiedergeben. Geht es hier doch um nichts weniger als um den Anfang eines ungeheuerlichen Endes, um die innere Stimme von tödlich Bedrohten, der so unendlich viele nicht hatten folgen wollen oder können, obwohl sie seit den ersten Septembertagen 1939 wissen mussten, was mit diesen Deutschen ist. Der Mond wusste es; und: Die Mäuse sind fort, verschwunden. Mäuse können das. Es ist ein Abgrund, der sich da auftut, und uns, die wissenden Leser, an den Rand stellt. Der gedachte Nobelpreis wäre nur das Maß einer wirklichen Erschütterung.

Bobrowski brachte mit dem Erzählband von 1965 »Boehlendorff und Mäusefest« – 156 Seiten, 25 Texte aus der Zeit von 1959-1964 – einen neuen Ton, eine neue Weise in die deutsche Literatur. Sein »Thema«, den Zwang seines Schreibens, hatte er 1961 so benannt: ... die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht.

Zunächst drängte sich das Gedicht in den Vordergrund: Die Sammlungen »Sarmatische Zeit« (1961), »Schattenland Ströme« (1963). 1964 erschien der Roman »Levins Mühle«, das »Thema« versetzt in einen Kriminalfall des Jahres 1874 im damaligen Preußisch-Polen. Und da sind sie alle: Deutsche und Polen, Zigeuner und Juden, Landstreicher und Musikanten. Lauter »kleine Leute« und: der reiche, deshalb einflussreiche kriminelle »Großvater« des Erzählers. Eine komische, skurrile, traurige Geschichte. Ein Roman, der sehr bald in 20 Sprachen übersetzt war.

Das »Thema« ist das eine, doch gewichtiger wird die künstlerisch-sprachliche Form, zu der Bobrowski in der Lage war und die ihn unverwechselbar macht. Verwurzelt im heimatlichen Idiom der Tilsiter Umgebung, bevorratet mit der bunten Gestalten-Welt einer Grenzregion, gelangt die Erinnerung nun in meist kürzere Erzählungen, »Erzählchens«. Eigentlich liest man sie nicht, sondern man hört den Erzähler bzw. seine Geschöpfe reden. Monologisch, dialogisch, vor allem durcheinander. Bobrowski war ein exzellenter Vorleser. Glücklicherweise gibt es Schallplatten. Las er die Geschichte von dem Posthalter Petrat, Beamter und Mensch, eine Geschichte mit dem Furcht erweckenden Titel »De homine publico tractatus«, rief er Lachsalven beim Publikum hervor. Beklemmung aber musste aufkommen, hörte man das ganze Drumherum der Geschichte von »Lipmanns Leib«. Eigentlich eine Mord-Geschichte, begangen an dem im Krieg geistig zerstörten Juden Leib. Doch viel schlimmer: von den Beteiligten – sagt Bobrowski – nur als Achtlosigkeit im Umgang mit dem Nächsten empfunden, also keine Verbrecher. Man urteile selbst.

Historisch zwar sind »Boehlendorff« und »Pinnau«, Poeten aus dem Umkreis Hölderlins zum einen, aus dem Kants und Hamanns zum anderen. Gescheiterte, die sich selbst beenden. Dennoch berührt ihr Dasein das unsere, bedenkt man die zeitlose Frage des einen: Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? und die Bedrängnis des anderen: Er hat gedacht – Er hat geschrieben – er hat gewollt, was nicht möglich ist. Es ging Bobrowski um Vergegenwärtigung, auch wenn er ins Vergangene griff.

Gern zitierte ich den kleinen Text mit der Überschrift »Interieur« (1964), nur eine halbe Seite. Doch man könnte sie sogleich nachlesen. Interieur meint ein Bild, das einen Innenraum darstellt. Eine Standuhr, ein Kanapee; drei Personen, ein schmelzend hingesprochener Vers, seinen »Ergänzung« und ein Gedankenblitz, der natürlich ohne Folgen bleibt. Wie oft schon und mit wie viel Häme ist dieser Rilke-Satz von der »Armut« als einem »großen Glanz aus Innen« zitiert worden, missverstanden, missbraucht. Hier, bei Bobrowski, erfährt er einen Zusammenhang ins Soziale, der überrascht. Fast scheint es, als wolle er den Dichter, der gar nicht genannt wird, vor seiner Gemeinde in Schutz nehmen. Besitz- und Bildungsbürgertum.

In einer erzählerischen Skizze aus seinem letzten Lebensjahr, »Fortgeführte Überlegungen« (1965), macht Bobrowski, der Christ, sich selbst noch einmal deutlich, dass Christentum ... eine ›Ideologie der Armen‹ sei, und er unterstreicht die Sozialwerke der Kirche und von dorther kommend soziale Utopien. Weil es ihm ernst mit alledem war, gelangt er zu diesem Schluss: Einsichtig geworden, hatte man folgendes Bild dafür:/ Eine Gebirgsstraße, eine schmale kurvenreiche Fahrbahn, die eine Seite offen gegen den steilen Abhang. Die Christen also bauen ein Geländer oben. Und unten, für die Verunglückten eine Rettungsstation. Das ist, zugegeben, viel. Aber richtig wäre es, einen Tunnel durch den Berg zu hauen./ Also Umgestaltung der (sozialen) Verhältnisse, darauf lief es hinaus.«

Eine Schlussfolgerung, scheint mir, die im Zeiten-Raum wohl stehen geblieben ist.

Foto: Archiv