Wir sind wie Wasser in einem Fluss

Ein Kommentar zum Kopenhagener Gipfel – von einem Klassiker des alternativen Lebens

  • Lesedauer: 4 Min.
Kopenhagen. Es geht ums Klima? Um mehr: um alternatives Leben! Zurück zur Natur? Unmöglich. Und zurück zur wahren eigenen Natur des Menschen? Geht das (noch, wieder)?

1845. Mit 28 Jahren geht Henry David Thoreau an den Walden-See in den Wäldern von Massachussetts. Es beginnt ein Experiment: fern aller Zivilisation in Einklang mit der Natur zu sein. Das Buch »Walden« wird zur Chronik dieses radikalen Umdenkens – ein Klassiker des Traums von der wahrhaft einfachen Existenz. In Nähe zum Klimagipfel: Gedanken aus dem Schlusskapitel ...

Eines habe ich zumindest durch mein Experiment gelernt: Wer vertrauensvoll auf seinem Traumweg vorwärts schreitet und bestrebt ist, das Leben, das er sich vorgestellt hat, zu leben, wird von einem Erfolg begleitet sein, der gewöhnlich nicht zu erwarten ist.

Er wird manche Dinge zurückstellen, wird eine unsichtbare Grenze überschreiten; neue, weltumfassende und freiere Gesetze werden sich in ihm und um ihn bilden (...) und er wird in der Ungebundenheit einer höheren Daseinsordnung leben. Im selben Verhältnis, in dem er sein Leben vereinfacht, werden ihm die Gesetze des Weltalls unkompliziert erscheinen. Einsamkeit wird nicht Einsamkeit, Armut nicht Armut und Schwäche nicht Schwäche sein.

Hast du Schlösser in die Luft gebaut, muss deine Arbeit nicht unnütz gewesen sein; denn gerade dort sollten sie stehen. Jetzt gib ihnen das Fundament.

(...) Mag dein Leben noch so armselig sein, nimm es auf dich und lebe es; versuche nicht, dich darum zu drücken, und beschimpfe es nicht. Es ist nicht so schlecht wie du. Der Krittler wird auch am Paradies etwas auszusetzen haben. Liebe dein Leben, wie es ist. (...) Die Armen der Stadt scheinen mir oft das unabhängigste Leben von allen zu führen. Vielleicht sind sie einfach großherzig genug, ohne Argwohn nehmen zu können.

Die meisten halten sich für zu gut, sich von der Gemeinde erhalten zu lassen. Doch öfter noch halten sie sich nicht für zu gut, sich mit unredlichen Mitteln zu unterhalten, was schimpflicher sein sollte.

Bemühe dich nicht besonders, etwas Neues anzuschaffen, weder an Kleidern noch an Freunden. Wende die alten, kehre zu ihnen zurück. Die Dinge ändern sich nicht; wir ändern uns. Verkaufe deine Kleider und behalte deine Gedanken (...) Wäre ich wie eine Spinne all meine Tage auf den Winkel einer Dachkammer beschränkt, so würde die Welt darum nicht weniger groß für mich sein, solange mich meine Gedanken umgeben. Der Philosoph sagt: »Einer Armee von drei Divisionen kann man den General nehmen und sie dadurch in Unordnung bringen; dem Menschen aber, selbst dem verworfensten und gewöhnlichsten, kann man seine Gedanken nicht nehmen.«

Sei nicht so ängstlich darauf bedacht, fortschrittlich zu sein und dich immer neuen Einflüssen auszusetzen, die doch nur ihr Spiel mit dir treiben; das ist nur Verschwendung. Demut wie auch Dunkelheit enthüllen das himmlische Licht (...)

Wir kennen nicht mehr als das äußerste Häutchen des Erdballs, auf dem wir leben. Die meisten sind weder sechs Fuß tief unter die Oberfläche getaucht, noch sechs Fuß hoch in die Luft gesprungen. Wir wissen nicht, wo wir sind. Außerdem verschlafen wir fast die Hälfte unseres Lebens. Aber wir halten uns für weise und haben eine bestehende Ordnung auf der Erdoberfläche. Wahrhaftig, wir sind tiefe Denker, wir sind hochstrebende Geschöpfe! Wenn ich mich über das Insekt beuge, das da unter den Tannennadeln über den Waldboden kriecht, und mich frage, warum es so gering von sich denkt, dass es den Kopf vor mir verbirgt, der ich vielleicht sein Wohltäter sein und seinem Geschlecht eine erfreuliche Mitteilung machen könnte, dann erinnere ich mich an den größeren Wohltäter und den größeren Geist, der herabblickt auf mich, das menschliche Insekt.

Unablässig fließt der Welt Neues zu, und doch dulden wir ein unglaubliches Maß an Stumpfheit. Ich muss nur daran erinnern, welche Predigten man in den meisten aufgeklärten Ländern noch immer hört. Worte wie Freud und Leid gibt es nur noch als Kehrreim eines Psalms, welcher mit näselndem Klang gesungen wird, während wir an das Gewöhnliche und das Gemeine glauben. Wir glauben, dass wir nur unsere Kleider wechseln können. Es heißt, das Britische Reich sei sehr groß und angesehen, und die Vereinigten Staaten seien eine Weltmacht. Wir bedenken nicht, dass hinter jedem Menschen eine Flut steigt und sinkt, die imstande wäre, das Britische Reich wie einen Holzspan hinwegzuschwemmen, wenn ihr je der Gedanke käme (...)

Das Leben in uns gleicht dem Wasser in einem Fluss. Es kann in diesem Jahr höher steigen, als wir es je erlebt haben, und das dürre Hochland überfluten. Es war nicht immer ein trockenes Land, wo wir leben. Tief in seinem Inneren sind noch die Sandbänke zu sehen, welche der Strom überflutete, noch ehe die Wissenschaft begann, seine Überschwemmungen aufzuzeichnen.

Text entnommen aus: H. D. Thoreau: Walden. Ein Leben mit der Natur. Übersetzt von Erika Ziha/ Sophie Zeitz. DTV München. 360 S, 10 Euro.

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