nd-aktuell.de / 21.12.2009 / Politik / Seite 3

Szenarien für den schlimmsten Fall

Walter Momper (SPD) über die Tage des Mauerfalls aus West-Berliner Sicht und heutige Rückblicke

Walter Momper ist seit 2001 Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses.
Walter Momper ist seit 2001 Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses.

ND: 20 Jahre Mauerfall gehen zu Ende, bald werden 20 Jahre deutsche Einheit gefeiert. Was ist für die Erinnerungskultur wichtiger?
Momper: Da ist kein Gegensatz. Die deutsche Einheit ist ein deutsches Ereignis, der Mauerfall war der Kulminationspunkt europäischer Ereignisse. Die Völker Ost-Mittel-Europas haben die sowjetische Vorherrschaft abgeschüttelt und die Ein-Parteien-Systeme beseitigt. Das war der Durchbruch zu Demokratie und zu freiheitlicheren Verhältnissen auch in Ost-Europa.

Ist die Erinnerung inzwischen gerechter geworden?
Der grobschlächtige Rückblick auf die DDR ist heute nicht mehr üblich. Die Differenzierung wird größer, sie könnte in manchem noch größer sein. Und die europäische Emotionalität an diesem 9. November war stärker als in den Vorjahren.

Inwiefern könnte die Differenzierung größer sein?
Am wenigsten differenziert sind immer noch die Beurteilungen von Stasi-Geschichten. Das erleben wir gerade wieder in Brandenburg. Wir leben in einem Land, in dem fast alle Straftaten – mit Ausnahme von Mord – irgendwann verjähren. Ich will wahrlich keiner DDR-Nostalgie das Wort reden, aber die Stasi-Vergangenheit haftet Menschen offenbar ewig an.

Plädieren Sie für einen Schlussstrich?
Nein. Es müssen die Taten offengelegt und darüber gesprochen werden. Das ist für alle wichtig, die davon betroffen sind, für Opfer wie Täter. Erst auf der Basis einer Bewertung kann vernünftigerweise das erfolgen, was man Verzeihen nennt.

Die Wende verlief auch friedlich, weil diejenigen, die noch die Macht hatten, sich quasi mit all ihren Waffen »ergaben«. Wäre es an der Zeit, auch deren Anteil zu würdigen, etwa Egon Krenz oder Oberstleutnant Harald Jäger, der als Erster in Berlin den Schlagbaum hob?
Ich habe Vorbehalte, ob all das stimmt, was Egon Krenz für sich in Anspruch nimmt. Aber dass der Oberstleutnant Jäger zu dem entscheidenden Zeitpunkt die Grenze öffnete, das muss man hoch anerkennen.

Hatten Sie Sorgen vor einer bewaffneten Eskalation?
Niemand konnte wissen, ob nicht jemand die Nerven verliert, die Grenztruppen schießen oder die NVA oder das MfS aufmarschieren. Als die Parole »Lasst es laufen!« kam, war dies ein freudiges und zugleich unerwartetes Ereignis, dank des Mutes und der Friedfertigkeit der Menschen. Aber dass Grenztruppen, Militär und Volkspolizei friedlich bleiben und die Nerven behalten, das konnte so nicht erwartet werden und war ein großes Glück.

Sie waren weniger überrascht von der Maueröffnung als andere, warum?
Ich war schon überrascht, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich damit nicht gerechnet. Aber Günter Schabowski hatte mir am 29. Oktober einen Hinweis gegeben, dass es eine Reiseregelung für alle geben werde. Wir wussten nur nicht, wann und wie sie kommt. Von da an haben wir vorgesorgt, wir rechneten mit stark ansteigenden Besuchen aus Ostberlin. Aber er wollte uns vorher rechtzeitig Bescheid sagen.

Hatten Sie die Bundesregierung über Schabowskis Ankündigung informiert?
Bonn hat sofort einen Vermerk bekommen und ich schrieb Bundeskanzler Kohl anschließend einen Brief über die nötigen Vorkehrungen. Offenbar war die Bundesregierung etwas schlecht organisiert. Dass der Regierungschef am Tag, als das Ereignis dann eintrat, zum Staatsbesuch in Polen war, so etwas wäre uns in Berlin nicht passiert. Da mussten alle im Senat an Deck bleiben.

Befürchteten Sie noch am Abend des 9. November, die Grenze könnte wieder dicht gemacht werden?
Meine Hauptsorge war immer, wann kommt der Sturm von hinten über die Mauer und wie spielt sich das ab. Wir mussten davon ausgehen, dass es ein Blutbad geben könnte. Es gab sogar Berechnungen, wie lange es dauern würde, bis die Grenzsoldaten sich leergeschossen hätten. Danach rechneten wir mit 20 bis 30 Minuten Zeit, bis sie sich neue Munition herangeholt hätten, und in der Zeit würde es eine Massenflucht geben, weil sich so etwas sofort herumspricht.

Spiegelten sich in diesen Befürchtungen auch die gegenseitig hochgezüchteten Ängste und Feindbilder? Es war bereits erkennbar, dass keine militärische Karte mehr gespielt werden würde.
Sie dürfen nicht vergessen, noch im Februar 1989 wurde Chris Gueffroy erschossen, weil er von Ost nach West wollte. Für uns war kein Zeichen größerer Friedfertigkeit an der Grenze erkennbar.

Das war vor der Massenflucht über Budapest und Prag.
Das stimmt, aber wir mussten Szenarien anstellen: Was passiert im schlimmsten Fall? Wir wissen doch auch erst hinterher, dass alles besser gelaufen ist. Sicher gab es viele Anzeichen, dass sich auch im Bewusstsein der staatlichen Sicherheitsorgane etwas veränderte. Als wir am 4. November auf unserer Fahrt nach Prag in Zinnwald über die Grenze fuhren, wurden wir von einem Hauptmann der Grenztruppen kontrolliert. Der Senatssprecher, Werner Kolhoff, sagte zu dem: »Na, Herr Hauptmann, wie ist es, hauen die immer noch ab?« Normalerweise hätte der geantwortet: »Was reden Sie denn da?« Aber der Hauptmann schaute sich um, ob einer mithört, und antwortete dann: »Einer nach dem anderen, einer nach dem anderen!« Im Nachhinein habe ich verstanden, dass für den die gewohnte Welt schon zusammengebrochen war. Und als wir auf dem Rückweg wieder in Zinnwald ankamen, da kommt ein Volkspolizist, salutiert und meldet: »Sie müssen großräumig Dresden umfahren. Ist es Ihnen recht, Herr Regierender Bürgermeister, wenn ich die Busse vorziehen lasse und dann die Fahrer instruiere?« Da dachte ich: Donnerwetter, so bist du hier noch nie begrüßt worden.

Am 10. November sagten Sie auf einer Kundgebung, dies sei »nicht der Tag der Wiedervereinigung, sondern des Wiedersehens«. Sahen Sie Erstere nicht kommen?
Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Mich ärgerte das Wiedervereinigungs-Gerede, das Herr Diepgen und die CDU sofort anstimmten. Die Oppositionsbewegung in der DDR wollte zu diesem Zeitpunkt keine Wiedervereinigung. Ich habe am 2. Februar 1990 abends auf dem Ostberliner Parteitag der SDP gesagt: Wenn die Mehrheit der Menschen in der DDR erkennbar die Einheit will, dann haben wir nichts dagegen, dann wollen wir sie auch machen – und zwar bald.

Ist Berlin heute eine geeinte Stadt?
Im Großen und Ganzen ja. Die Lebensverhältnisse in Berlin sind in Ost wie West ziemlich gleich und die Bevölkerung mischt sich. In den anderen östlichen Bundesländern gibt es nach wie vor einen Nachholbedarf an moderner Industrie- und Wettbewerbskultur – das kann niemand von heute auf morgen aus dem Hut zaubern.

20 Jahre nach dem Mauerfall kann dies nicht mehr an einer maroden Planwirtschaft liegen.
Nein, daran liegt es nicht.

Woran dann?
Zum Beispiel spielen kulturelle Gewohnheiten eine Rolle. Mit einer jahrzehntelang eingeübten Wettbewerbs- und Ellenbogengesellschaft mitzuhalten, ist nicht so leicht – und auch nicht nur positiv.

Haben Sie persönlich etwas von DDR-Bürgern gelernt?
Mich hat der Mut der Bürgerrechtler beeindruckt, auch der ganz alltägliche Mut gegenüber der
Staatssicherheit. Wie Menschen ihr Leben gestaltet und gemeistert haben und sich nicht knicken ließen, das ist lehrreich. Und der Mut am 9. November, zur Grenze zu gehen und so lange zu diskutieren, bis sie aufgeht – daran kann man aufrechten Gang lernen.

Die damaligen Zwänge heben Menschen aus dem Westen häufig hervor. Weniger interessiert meist ein anderer Aspekt: Was das Leben, den Alltag und die Kultur in einer Gesellschaft ausmachte, die die heutigen Zwänge nicht kannte.
Eine Diktatur bedeutet etwas Bestimmendes. Ohne diesen Rahmen wäre das Leben weniger problematisch gewesen. Ich sage nicht pauschal, wir waren die bessere Gesellschaft. Aber eine Diktatur begrenzt Freiheiten. Das mussten auch viele Sozialdemokraten erfahren, die in die SED gingen, weil sie an die Einheit der Arbeiterklasse glaubten, und dann bitter enttäuscht wurden, in Gefängnissen landeten oder abhauten.

Hat die deutsche Vereinigung der SPD parteipolitisch geschadet? Sie hat linke Konkurrenz bekommen.
Nein, die Probleme der SPD haben ihre Ursache nicht in der deutschen Einheit. Gewiss gab es nach 1989 zunächst eine Euphorie. Einige meinten, wenn Sachsen und Thüringen, die Stammgebiete der Sozialdemokratie, wieder dazukommen, dann haben wir die Mehrheit. Ich war da skeptischer. Immerhin waren die alten Werte der Arbeiterbewegung von der SED gründlich diskreditiert worden.

In einem ND-Interview kurz nach dem Mauerfall – wohl das erste Interview, das das ND je mit einem Politiker aus Westdeutschland bzw. West-Berlin druckte – sagten Sie: »Es mag auch neue Berührungspunkte geben, die eine veränderte SED für die SPD weiterhin oder vielleicht sogar verstärkt interessant erscheinen lassen«. Hat sich das mit der rot-roten Koalition in Berlin spät erfüllt?
Nein, das ist eine Koalition, keine Einheitspartei. Aber es gab eine andere Erfüllung: Ich habe damals SED-Leute kennengelernt, die sagten, wir sind auch Sozialdemokraten. Etliche meinten das sehr ernst. Das sozialdemokratische Reinheitsgebot von 1989, wie ich es etwas spöttisch nenne, hat uns abgehalten, sie aufzunehmen.

Dann wäre die Entwicklung von SPD und damals PDS, heute LINKE, eine andere gewesen?
Wahrscheinlich. Aber die SPD stand auch unter heftigem Druck der CDU mit ihrer Rote-Socken-Kampagne.

Waren die Berührungsängste von Ost-Sozialdemokraten nicht entscheidender für das Aufnahmeverbot früherer SED-Mitglieder?
Ich konnte verstehen, dass sie das nicht wollten. Es gab eine berechtigte Angst, erneut überrollt zu werden. Das konnte andernorts im vormaligen Ostblock anders gelöst werden. Deswegen ist die Sozialdemokratie in manchen Ländern Ost- und Mitteleuropas im Prinzip stärker – im Prinzip, nicht in jeder Hinsicht. Die heutige Trennung zwischen der SPD und der LINKEN ist weniger eine gegenüber deren Ostverbänden als gegenüber ihren Westverbänden; da haften manche noch zu sehr an radikalen Vorstellungen. In ihrer sozialen Struktur, ihren politischen Absichten und ihren Verhaltensweisen sind beide Parteien sich aber ziemlich ähnlich geworden – zumindest gilt das für Berlin.

Setzen Sie auf eine Vereinigung beider Parteien in einiger Zukunft?
Warten wir ab, wie die Entwicklung weitergeht. In erster Linie hat die LINKE ihre eigenen Probleme zu klären, und manches wird auch die SPD klären müssen. Im Übrigen ist Geschichte immer offen!