Gedächtnis mit Leidenschaft

Archivare und Bibliothekare der Arbeiterbewegung

  • Jürgen Hofmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es scheint heute nahezu selbstverständlich, in Archiven und Bibliotheken reichhaltige Bestände zur Geschichte der Arbeiterbewegung vorzufinden. Dabei war diese Bewegung in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten wiederholt Phasen der erbitterten Verfolgung und existenzieller Gefährdung ausgesetzt. Schon ihre Entstehungsgeschichte ist eine Geschichte staatlicher Repression gegen Organisationen und Repräsentanten. Deshalb ist es an der Zeit, an die Frauen und Männer zu erinnern, die unter wechselvollen Bedingungen – teilweise unter Einsatz ihres Lebens oder ihres Vermögens – dafür sorgten, dass die Hinterlassenschaften der Arbeiterbewegung für die Nachwelt erhalten blieben. Forscher und Interessierte können das Wirken der unterschiedlichen Strömungen dieser Bewegung an deren eigenen Zeugnissen rekonstruieren und sind nicht ausschließlich auf die Überlieferung von Spitzeln, Polizei und Justiz angewiesen, die auf Kriminalisierung ausgerichtet war.

Es ist das Verdienst der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, dass erstmals ein beeindruckender Einblick in Biographien und Schicksale von Sammlern und Bewahrern der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung vorliegt. Trotz der notwendigen Auswahl ist eine exemplarische Gesamtschau gelungen. Autoren aus mehreren Ländern haben sich an dem Projekt beteiligt, woran sicher die beiden Herausgeber keinen geringen Anteil haben. Der weniger eingeweihte Leser hätte sich allerdings darüber etwas Aufklärung durch ein Autorenverzeichnis gewünscht. Die unterschiedlichen Handschriften einem Ganzen anzupassen, oblag Dagmar Goldbeck und Sabine Kneip, deren Redaktion und Bearbeitung die Herausgeber zu Recht loben. Der Leser kann das nur bestätigen. Das betont sachliche Vorwort ist Zeugnis der Konzeption. Da das vorliegende Buch von Persönlichkeiten handelt, die in Wirklichkeit oft zerstritten oder gar verfeindet waren, ist das nicht unbedingt selbstverständlich.

Hinter 56 Skizzen verbergen sich 60 Kurzbiografien. Von der Mehrzahl kann mit 49 Abbildungen auch ein optisches Bild vermittelt werden. Wir treffen auf bekannte und weniger bekannte Namen. Neben Eduard Bernstein, Eduard Fuchs, Bruno Kaiser, Julius Motteler und Theo Pinkus wird der Leser auch mit Bert Andréas, Ernst Drahn, Fritz Hüser und Susanne Leonhard vertraut gemacht. Anni van Scheltema-Kleefestra und ihre Verdienste um die Wiederauffindung der verstreuten Bestände des Amsterdamer Instituts für Sozialgeschichte dürften wohl den wenigsten deutschen Lesern geläufig sein. Dass immerhin vier Frauen in der – historisch bedingt – lange Zeit männerdominierten Welt auftauchen, ist lobenswert, verweist aber auch auf dringend notwendige Schwerpunkte künftiger Recherchen. Herausgeber und Autoren haben sich nicht gescheut, Personen aufzunehmen, deren Lebensweg Brüche aufwies, die sie teilweise auch in das Lager des politischen Gegners führte.

Ernst Drahn, der bei der NSDAP landete, ist so ein Beispiel. Auch die Tragik von Verdächtigungen aus den eigenen Reihen und stalinistischer Repressionen spiegelt sich in etlichen Schicksalen wider. Dawid Borisowitsch Rjasanow, der schon in zaristischer Zeit politischen Verfolgungen ausgesetzt war und der ab 1921 in Moskau das Marx-Engels-Institut aufgebaut und geleitet hatte, wurde 1938 nach einer fünfzehnminütigen Verhandlung zum Tode verurteilt und erschossen. Er wurde 1958 rehabilitiert, seine Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften 1990 postum erneuert. Dies ist nur ein Beispiel für die beträchtlichen intellektuellen Verluste.

Ein weiterer Vorzug zeigt sich darin, für die Sammler von Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung den Blick über den Tellerrand Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hinaus gerichtet zu haben. So kommen Persönlichkeiten und Institutionen aus den Niederlanden, aus Frankreich, Skandinavien und der ehemaligen Sowjetunion ins Blickfeld, ohne die nach den verheerenden Folgen von Faschismus und Zweitem Weltkrieg die Überlieferung noch mehr ausgedünnt wäre. Ganz nebenbei gewinnt der Leser einen Einblick in die Entstehungsgeschichte von Bibliotheken und Archiven der Arbeiterbewegung. Obwohl kein Handbuch beabsichtigt war, bieten die meisten Beiträge kleine Exkurse zur Institutionsgeschichte an. Ein Abkürzungsverzeichnis gibt zuverlässige Aufklärung über das Verwirrspiel der Kürzel von Parteien, Bewegungen und Institutionen. Die seltenen Druckfehler (ausgerechnet zu DDR und BRD) dürften kaum ins Gewicht fallen.

Der Publikation sei eine breite Resonanz gewünscht und in absehbarer Zeit vielleicht eine erweiterte Neuauflage. Dem Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, von dem die Initiative für das Projekt ausging, sind Spenden interessierter und dankbarer Leser sicherlich willkommen.

Günter Benser/Michael Schneider (Hg.): Bewahren – verbreiten – aufklären. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung. Das Buch (376 S.) ist gegen Erstattung der Versand- und Verpackungskosten (2 €) beim Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. (Finckensteinallee 63, 12205 Berlin) oder per E-Mail: profbenser@aol.com zu beziehen. Spenden: Dresdner Bank, Berlin, BLZ 120 800 00, Konto-Nr. 0662821700.

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