2009 in Buchstaben

Von Annex B bis ZDF – ein alphabetischer Rückblick auf das vergangene Jahr von Velten Schäfer

  • Lesedauer: 10 Min.

A nnex B, der. Im Februar jährten sich zum zehnten Mal die Jugoslawien-Verhandlungen bei Paris. Im sogenannten »Annex B« des Papiers, das Jugoslawien damals vorgelegt wurde, steht: NATO-Angehörige sollten »sich mitsamt ihren Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und ihrer Ausrüstung frei und ungehindert und ohne Zugangsbeschränkung in der Bundesrepublik Jugoslawien und ihrem Luftraum sowie ihren Territorialgewässern bewegen« dürfen. »Dies schließt ein, ist aber nicht begrenzt auf das Recht zur Errichtung von Lagern, das Abhalten von Manövern sowie das Recht zur Nutzung sämtlicher Gebiete, die für den Nachschub, Übungen oder Operationen benötigt werden.« Vor zehn Jahren stritt man noch darüber, ob die offenbar unerfüllbaren Bedingungen mit Vorsatz gestellt wurden oder es eine Ungeschicklichkeit war. Wie auch immer: Die Bundesrepublik hat in ihrem 50. Jubiläumsjahr ihren ersten Krieg zustandegebracht. Doch auf den Gedenk-Zweiteiler im ZDF musste man verzichten. Man hatte ja auch Schöneres im Kopf.

Bahnchef, der: Diplomat wollte er nie werden. Immerhin ein Leitsatz, den Hartmut Mehdorn umsetzen konnte. Deswegen hat er 2007 seine Biografie so genannt. Ansonsten hat sich der B. stets des Basta-Kanzlers, der ihn ernannt hatte, würdig erwiesen: Wer nicht gekauft wurde wie der Chefgewerkschafter Norbert Hansen, wurde angeblafft und überwacht. Im Mai 2009 endete das Jahrzehnt des B. ohne Börsengang. Jetzt hat ein Herr Grube übernommen, und eine Figur »Bahnchef«, die etwa zur Lage der Nation herumtalken würde, existiert nicht mehr. Herr Grube hat auch genug zu tun: Zum Mehdorn-Erbe gehört nämlich auch, dass drei Tage Frost inzwischen ausreichen, einen Tag vor Weihnachten jeden zweiten Zug zwischen München und Berlin ausfallen zu lassen. Aber man bleibt ja via Facebook in Verbindung.

Cop 15 steht für Copenhagen, die jüngste ergebnislose Weltklimakonferenz. CO2 dürfte auch klar sein, aber was heißt CO2e? Was ist der MBH98, was CDM, was LULUCF und UNFCCC, ESSP, AOSIS oder GHG? Noch dazu sind die Buchstaben nicht eindeutig: Bei der Neunten Sitzung des AWG-KP und siebten Sitzung des AWG-LCA in Bangkok zum Beispiel stand COP nicht für die dänische Hauptstadt, sondern für einen speziellen Typ von Plenarversammlung. Im Englischen hat das Klima-Fachchinesisch schon einen Namen: Climatese, Klimatesisch. Darüber kann man sich lustig machen – oder den abschottenden Jargon als Anzeichen dessen nehmen, was der Soziologe Max Weber noch jedem polit-bürokratischen Apparat prophezeit hat: Dass er alsbald ein Eigenleben entwickelt und zunehmend nicht-intendierte Ergebnisse produziert. Kopenhagen war ein Flop, während im Schmutz-Zertifikatehandel 2009 offenbar Betrügereien der mittleren 100-Millionen-Klasse abgelaufen sind. Das lässt auch weiterhin Raum für Fantasie. 2084 werden Fehler im Individuellen Nachhaltigkeitskonto mit fünf Minuten Kopfschmerz bestraft, zugestellt per SMS. Roman-Autoren, übernehmen Sie!

Derivat, das: Wer verstanden hat, um was genau für ein Börsenpapierchen es sich bei einem D. handelt und immer noch nicht im Geld badet – ist entweder dumm oder moralisch. Für alle anderen ein Tipp: Laut Lexikon ist ein D. »ein Produkt, dessen Preis vom Preis anderer Produkte abhängt oder davon abgeleitet wird«. Alles klar? Mehr muss man nicht wissen. Warten sie auf die nächste Hausse und werden Sie reich. Denn obwohl das D. zur großen Finanz- und Wirtschaftskrise beigetragen hat, ist es nach wie vor verfügbar und wartet geduldig auf seine nächsten Opfer. »Normalität«, jubelt die Wirtschaftspresse.

Energiekonzern, der: Der E. an und für sich gehört wohl zu den Ökonomischen Einheiten, die sich – trotz sinkender Preise – über die Krise herzlich freuen konnten: Endlich standen mal andere am gesellschaftlichen Pranger des Machtmissbrauchs und Eigennutzes: Die Banken hatten ihnen den Rang abgelaufen. Das nächste Jahr wird dafür extra-finster für den E. an sich, denn Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) arbeitet an einem Konzernentflechtungsgesetz, das den fiesen Kartellgestalten mal so richtig ans Leder will. Das Zähneklappern ist schon bis Berlin zu vernehmen.

Fußballmetapher, die: Liegt es an Gerhard Schröder, der 2005 die Fußball-WM von der Bundestagswahl entkoppelt hat? Will die Politik mit dem Wettbandenwesen nicht mehr in Verbindung gebracht werden? Hat die Auswechslung Müntes die Lederkugelkalauer ins Abseits gestellt? Der Niedergang der F. im politischen Raum gehört zu den erfreulichsten Entwicklungen 2009. Man stelle sich nur vor, was auf diesem Gebiet im Wahl- und Gedenkkampf hätte verbrochen werden können: »Befreien kann sich eine Mannschaft nur durch schnelles Nachrücken ...« – ist ja gut, wir hören schon auf.

Generalstreik, der: Liegt es am Terror des Kapitals oder am österreichischen Akzent der Trotzkistengruppe, die die Sache des G. in der Hauptstadt am hartnäckigsten vertritt? Nicht einmal in Berlin sind die Studentenstreiks in einen G. umgeschlagen, obwohl durchaus gefordert. Wer nach ihm verlangt, gilt als Spinner, obwohl Gewerkschaften in zivilisierten Staaten aus politischen Gründen streiken dürfen. Gerade Uni-Streiks bekämen mit politischem Streikrecht eine ganz andere Kraft. Deshalb sollte der G. auf der Agenda des Klassenkampfes bleiben – am besten mit neuem Image. »Politisches Interventionsrecht« wäre schön.

Hoffnungsträger, der: 2009 hatte die Hoffnung einen exotischen Namen, ein nettes Lächeln, eine tolle Frau und einen flusenfreien Wasserhund. Als Universalmessias begrüßt, kann der H. nur scheitern – zumal das Weltgemeinwohl in seiner Jobbeschreibung eigentlich nicht vorkommt. Die Peinlichkeit des Jahres 2009 aber, Barack Obama kurz vor der weiteren Eskalation seines Krieges den Friedensnobelpreis zu verleihen, hat der H. nicht selbst zu verantworten. Dies ist fairerweise zu berücksichtigen bei der Beurteilung seiner weiteren Perfomance.

Investitionsprogramm, das: Über Jahre wagten selbst Gewerkschafter nur verzagt, ein I. zu fordern, schließlich wusste alle Welt, dass es mit seinem Ansatz, die Wirtschaft über die Nachfrage zu steuern, nie funktionieren konnte. Strohfeuer! 2009 war das erste Jahr seit 1982, in dem der Gebrauch des Wortes nicht belächelt wurde. Nun ist sogar »Spiegel«- amtlich: Das I. »hat funktioniert«. Bald wird Schluss damit sein. Künftig werden die Spatzen wieder auf neoklassische Art gefüttert: Durch den Arsch des Esels.

Jamaika. Wer Yams-Wurzeln kaut, rennt schneller als andere, ergab der Auftritt des Usain Bolt in Berlin. Woran Peter Müller (CDU) gekaut hat, bevor er sein Vorleben als Studiengebühren-Hardliner in eine Existenz als grüngelbschwarzer Kuschelbär eintauschte, ist nicht gesichert. Es könnten seine eigenen Fingernägel gewesen sein. Jedenfalls gibt es forthin eine neue Farbvariante. Ob sie auch dann funktioniert, wenn die Beteiligten nicht beieinander angestellt sind?

Kopfpauschale, die: Schon als Kind hatte ich Angst vor Maggie Thatchers »Kopfprämie«. Es klang immer so nach Menschenfressern. Aber noch sitzen zu viele Häupter auf den Schultern. Das zu ändern, hat sich jetzt die FDP vorgenommen. Natürlich auf geregelte Art: Köpfe werden bei uns nur pauschal abgerissen. Hier könnte man »nachschärfen«, würde Kompetenzminister Guttenberg sagen.

Ladenschluss, der: Die Höchstrichter haben entschieden: Der vom rot-roten Berliner Senat liberalisierte L. verstößt gegen die Kirchgangspflichten. Wo die Nachfolgepartei regiert, ist eben eine Unrechtsstadt zu erwarten.

Maskottchen, das: Ein M. argumentiert nicht, es »verkörpert«, was speziell dann sehr praktisch ist, wenn man nichts zu sagen hat. Dennoch hat das M. lange ein Schattendasein geführt. Nicht einmal »Goleo«, immerhin offizielles M. der nach einhelliger Gastgebermeinung schönsten Fußballmärchenmeisterschaft aller Zeiten, konnte Eindruck hinterlassen. Da musste schon »Berlino« erfunden werden, das Pelzmonster von der Leichtathletik-WM, das so toll turtelte und grapschte, dass er in bewährter Bescheidenheit zum »besten M. aller Zeiten« gewählt wurde. Klar, dass das Schule macht: Frank-Walter Steinmeier griff den Trend als erster auf, doch inzwischen haben auch Angela Merkel und Guido Westerwelle ein jeweils wirklich berückendes M.

Neonazianwalt, der: Lange war der N. ein festehender Begriff wie der B. (siehe oben). Durch seinen vorschnellen Ritt nach Walhalla hat Jürgen Rieger zwischen Ost- und Querfront ein vergleichbares Vakuum hinterlassen. Mit ihm tritt der lebende Beweis dafür ab, dass sich Rassismus lohnt, wenn man rechnen kann. Die Nachfolger kämpfen noch, schließlich sind diese verflixten Ziffern kulturfremde Araber. Aber muss man deswegen gleich pleitegehen, NPD?

Opel-Blamage, die: Wer ist denn dieser Opel? Und welche Blamage? Niemand hat versucht, Opel zu retten. Merken Sie sich das!

Popstar, der: Es gab mal eine Zeit, in der man unter P. einen Menschen verstand, der genug Talent hatte und Drama produzierte, um weltweit interessant zu sein. Mit Michael Jacksons Tod nähert sich die Epoche des P. dem Ende. Es übernehmen die bedauernswerten Castingopfer.

Quelle, die: Quelle? Da war mal was? Längst vergessen. Ansonsten: siehe O.

Rucksackberliner, der: Wir sind wieder wer – und man erkennt es in Berlin. Dort gibt es inzwischen mehr Hotelbetten als in Manhattan. 19 Millionen Touristen kamen 2009, viele davon mit einem Rucksack voll Bier. Aus der Nähe mag das wenig appetitlich aussehen, aber wer im Ausland Berlin erwähnt, ist sich der Bewunderung sicher. Und vielleicht auch dreier oder vierer potenzieller R., die sich alsbald für den Sommer ankündigen. Also tapfer bleiben trotz Gegröle und Scherben – aus der Nähe sahen die »Goldenen 20er« wohl genauso aus.

Sarrazinismus, der: Beim S. handelt es sich um den intellektuellen Trend des Jahres: Ganz klar rüberbringen, was »man mal sagen dürfen muss«. Auch wenn der Integrationsverweigerer greint und das Kopftuchmädchen aufjault. Als Fortsetzung des »Tabubruchs« ist der S. endlich die Sorte von Zivilcourage, die unserer Gesellschaft wirklich zu Gesicht steht: Die von oben nämlich.

Terrorangst, die: Kennen Sie nicht? Das macht Sie verdächtig! Nach einem Jahr der Banker-Hetze muss jetzt mal Schluss sein mit den falschen Ängsten, denn nur die richtige Angst führt zum richtigen Resultat. Zum Glück konnten US-Behörden kurz vor Jahresende unsere Bedrohungssensoren wieder einstellen. Wir hätten sonst den rechten Weg verlassen.

Untersuchungsausschuss, der: Von der Idee her ist der U. der Ernstfall des Parlamentarismus: In ihm tritt der Souverän der Regierung gegenüber und fordert Klartext. De facto allerdings sieht sich der Souverän in großen Teilen als Vortruppe der aktuellen oder Nachhut einer vergangenen Regierung – und der U. präsentiert sich in der demgemäß als Gremium, das einen halbwegs klar erscheinenden Sachverhalt in ein kaum zu überblickendes Gefüge aus Informations- und Befehlsketten, Kompetenzverteilungen, Geheimhaltungsverpflichtungen und Gedächnislücken verwandelt, dessen Erkenntnisse immer so viele Lesarten zulassen, wie Parteien darin vertreten sind. Das war schon so, als es um BND-Agenten in Bagdad ging oder um die Frage, warum man einen Unschuldigen in Guantanamo schmoren ließ. Es wird auch diesmal nicht anders kommen. Dabei weiß jeder, was bei Kundus und danach in etwa passiert ist: Kurz vor der Wahl gab es einen verheerenden Bombenangriff mit vielen zivilen Toten, und die damalige Regierung hat um jeden Preis und sicher auch gegen besseres Wissen den Ball flachgehalten. Nur beweisen lassen wird sich das nicht. Trotzdem gilt es durchzuhalten. Die Idee ist wirklich zu schön.

Volkswagen, der: Den V. gibt's noch, auch nach 2009. Mehr denn je sogar, mit neuem Luxusuntersatz. Wer sagt denn, dass Fehlspekulationen nicht auch erfreuliche Ergebnisse haben können?

Wahlkampf, der: Zum W. gab es 2009 genug Anlass, da konnte man schon mal durchein- anderkommen. Und so plakatierten die Parteien Bundesthemen zur Europawahl, Landesthemen in den Kommunen – um, nachdem die beiden ersteren kaum ernstgenommen worden waren, bei der Hauptwahl gleich auf Themen zu verzichten. Und das Beste: Bald geht es weiter!

X-factor, der: Beim X. handelt es sich um die britische Mutter all dieser grausamen Castingshows – insofern ist es erfreulich, dass nach einer »Facebook«- Kampagne nicht turnusgemäß der X-Factor-Gewinner die englische Hitparade zu Weihnachten anführte, sondern die Anarchoband Rage against the Machine mit einem 17 Jahre alten Stück. Womit auch geklärt wäre, wozu Facebook gut ist. Und wozu vielleicht nicht.

Yves Rocher ist gestorben. Nur der Vollständigkeit halber.

ZDF, das: Als Kind dachte ich, das ZDF gehört der CDU, die ARD der SPD – und dass die anderen Parteien sich halt keinen Sender leisten könnten. 2009 habe ich gelernt, dass das gar nicht so falsch war, wie mir in der Schule erfolgreich weisgemacht wurde.

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