nd-aktuell.de / 13.01.2010 / Ratgeber / Seite 3

So oft wie möglich ein fröhliches Gesicht

Miep Gies hat Anne Franks Tagebuch gerettet. Jetzt ist sie ein Leuchten am Himmel

Christina Matte

»Nie haben wir ein Wort gehört, das auf die Last hinweist, die wir doch sicher sind, niemals klagt einer von ihnen, dass wir ihnen zu viel Mühe machen. Jeden Tag kommen sie herauf, sprechen mit den Herren übers Geschäft und über Politik, mit den Damen über Essen und die Beschwerden der Kriegszeit, mit den Kindern über Bücher und Zeitungen. Sie machen so oft wie möglich ein fröhliches Gesicht, bringen Blumen und Geschenke zu Geburts- und Festtagen mit, stehen immer und überall für uns bereit.« Dies notierte Anne Frank am 28. Januar 1944, wenige Monate vor ihrer Deportation ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo sie ermordet wurde. »Sie alle« – damit meinte die Vierzehnjährige Johannes Kleimann, Victor Kugler, Bep Voskuijl und Miep Gies, die der jüdischen Familie Frank halfen, sich im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263 vor den Nazis zu verstecken. Miep Gies, deren Aufgabe es war, Gemüse und Fleisch zu besorgen und die auch Annes Tagebuch rettete, war die letzte noch lebende Helferin. Nun ist auch sie tot. Sie starb am Montag hundertjährig.

Oft hat Miep Gies Auskunft über jenen Tag im Frühjahr 1942 erteilen müssen, an dem ihr Chef Otto Frank sie in sein Büro gerufen, ihr von seinem Plan unterzutauchen berichtet und sie gefragt hatte, ob sie bereit sei zu helfen. Ihre Antwort damals: »Ja, selbstverständlich.« Wann wäre es je selbstverständlich, das eigene Leben zu riskieren, um das anderer zu retten? Miep Gies nahm dazu später eine geradezu gütige Haltung ein: »Wir taten unsere Menschenpflicht: anderen helfen, die in Not sind. Viele Leute haben das nicht gemacht, manche, weil sie zu viel Angst hatten. Wenn jemand Angst hat, kann man ihm das nicht übel nehmen. Und wenn er das ehrlich zugibt, wie eine Freundin von mir damals, finde ich das mutig.«

Möglich, dass sie so formulierte, weil es ihr nicht besonders lag, sich als Heldin feiern zu lassen. Wahrscheinlich aber, weil sie selbst sehr gut wusste, was Angst ist und was es kostet, sie zu überwinden. Sie und ihre Mitstreiter haben sicher mehr als ein Mal Angst verspürt, doch es war ihnen wichtiger, den in Not Geratenen beizustehen. Man kann das Zivilcourage, Menschlichkeit oder Solidarität nennen.

Vielleicht will solidarisch sein, wer Solidarität erlebte. Miep Gies war am 15. Februar 1909 in Wien als Hermine Santrouschitz in einer österreichischen Arbeiterfamilie geboren worden. Unterernährt und häufig krank (»Meine Beine glichen Stöcken, die Knie stachen spitz hervor. Die Zähne waren locker und bröckelig ...«), stand ihr Leben, als sie elf war, auf der Kippe. 1920 rief eine niederländische Arbeitervereinigung für österreichische Arbeiterkinder eine Hilfsaktion ins Leben: Hermine durfte ins niederländische Leiden reisen und wurde dort aufgepäppelt. Laurens Nieuwenburg, Vorarbeiter in einer Leidener Kohlenfirma, brachte Hermine zu seiner Familie, die ihr den Kosenamen »Miep« gab. Miep blieb bei ihrer Pflegefamilie, mit der sie später nach Amsterdam zog.

Als Miep Santrouschitz mit achtzehn die Schule verließ, fand sie eine Anstellung als Stenotypistin in einer Textilfirma – die sie1933 wegen der Wirtschaftskrise entließ. Otto Frank gab ihr eine neue Arbeit. Mit Otto Frank sollte sie bald die gemeinsame Leidenschaft für Politik verbinden – beide hassten sie Adolf Hitler, dessen judenfeindliche Politik die Franks aus Deutschland vertrieben hatte. Wenn die Franks Miep und deren späteren Ehemann Jan Gies einluden, stellten sie die beiden ihren deutschen Gästen, meist ebenfalls jüdischen Emigranten, als »unsere niederländischen Freunde« vor.

Wer 1944 das Versteck der Franks verraten hat, wird wohl nicht mehr aufgeklärt werden. Am 4. August wurden die Untergetauchten verhaftet. Miep Gies, die durch Zufall der Festnahme entging, nahm Annes Tagebuch an sich. Gelesen hat sie es nicht. Auch ein Kind, fand sie, habe das Recht auf Geheimnisse. Wenn sie es gelesen hätte, hätte sie es verbrennen müssen – es hätte sie gefährdet. Später übergab sie es Otto Frank, der als Einziger seiner Familie überlebte.

Nach dem Krieg wurde Miep Gies vielfach geehrt, unter anderem gemeinsam mit ihrem Mann als »Gerechte unter den Völkern«. Die wohl schönste Ehrung wurde ihr letztes Jahr von der Internationalen Astronomischen Union zuteil, die einen Asteroiden nach ihr benannte. Miep Gies: das Leuchten am Himmel, das uns erinnert.