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Familienalben zeigen jüdisches Leben

»Nachbarn« jetzt Dauerausstellung in Schöneberg

  • Uta Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Einblicke in nahe und ferne Leben
Einblicke in nahe und ferne Leben

Sie liegen auf einem langen und mehreren kleinen Tischen in der großen Ausstellungshalle im Rathaus Schöneberg. Lampen verbreiten die Atmosphäre eines Lesesaales. Nimmt man eines der nunmehr 131 biografischen Alben jüdischer Zeitzeugen zur Hand, entdeckt man lesend das Leben fremder Menschen und Familien, die einst hier um das Bayerischen Viertel und darüber hinaus Nachbarn waren.

Die Bewohner hatten hier ihre Freunde, Geschäfte, Unternehmen, gingen zur Schule, lebten den Alltag aller Berliner. Der Leser – vielleicht noch stehend – betrachtet die ersten Seiten eines Familienalbums. Mehr und mehr in dieses Leben hineingezogen, wird er sich auf den Holzstuhl vor dem Tisch setzen, wird Bilder und Dokumente sehen, die eben nicht zum normalen Alltag aller Berliner gehörten. Er wird erfahren von Ausgrenzung, Verfolgung, Entwürdigung, Deportation, Vertreibung und Ermordung von Familienangehörigen. Einstige Nachbarn waren plötzlich unerwünscht.

Seit fünf Jahren war die Ausstellung »Wir waren Nachbarn«, die immer anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus eröffnet wurde, jeweils für drei Monate zu sehen. »Dieses Jahr ist ein ganz besonderes für uns, denn wir können die Ausstellung in den nächsten Jahren ganzjährig im Rathaus zeigen«, freut sich Ruth Federspiel vom Förderverein »frag doch!« und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung. 28 000 Besucher und die große Ausstrahlung haben die Senatsverwaltung Kultur zu einer Anschubfinanzierung bewogen, die den Einstieg in eine Dauerausstellung möglich machte.

Nicht nur für Schulklassen ist dies eine Erleichterung. Auch Besucher, die von weit her kommen, haben sie nun ganzjährig Zeit, den Ausstellungsbesuch zu planen. Als Ergänzung zur Dokumentation des Holocaustdenkmals hat die Schöneberger Ausstellung längst einen festen Platz in der Berliner Erinnerungskultur. »Viele kommen hierher, um etwas über das Leben ihrer Familien zu erfahren, denn die Alben beginnen vor der NS-Zeit und reichen bis in die Gegenwart«, meint Federspiel.

Auch künftig wird die Ausstellung um weitere biografische Alben erweitert. 2010 liegt der Schwerpunkt von Ausstellung und Rahmenprogramm auf Erinnerungen an jüdische Schulen und Schülerinnen und Schüler. Zu den neuen Büchern gehört das über Clara und Albert Reimann und die von ihnen geleitete Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann in der Landshuter Straße. Die Autorin Christine Kühnl-Sager vom Verein Aktives Museum konnte Quellen verwenden, die sie schon für die Ausstellung »Verraten und Verkauft – Jüdische Unternehmen in Berlin 1933-1945« erschlossen hatte. »Diesmal jedoch mehr mit dem Blick auf die Lebensgeschichte der Familie, deren Lebenswerk die Reimann-Schule war«, meint die Autorin. »Dieses Album passt sehr gut in dieses Haus, bezog doch die Schule 1925 hier Räume und bildete erstmalig Schaufensterdekorateure aus.«

Ein Album ist Luise Zickel und ihrer jüdischen Privatschule gewidmet, in der viele einen »behüteten Ort« fanden, nachdem sie die öffentlichen Schulen verlassen mussten. Am 16.2., 19 Uhr, ist von Helga Gläser, die sich mit Schulgründungen beschäftigt, mehr über Luise Zickel zu erfahren. Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck hat ein Album über die Schülerin Doris Kaplan erstellt, die viele Briefe an ihre Eltern in der Lausitz schrieb, bevor sie mit ihrer Mutter in das Ghetto Warschau deportiert wurde. Am 16. März stellt Jenny Erpenbeck das Album und ihren Roman »Heimsuchung« vor. Am 30.3. gibt es mit Miriam Merzbacher, geboren 1937 in Schöneberg, ein Zeitzeugengespräch.

Rathaus Schönberg, John- F.-Kennedy-Platz, Mo.- Do., Sa.-So. 10- 18, Gruppen und Schulklassen auch Freitag mit telefonischer Anmeldung unter 902 77 69 64, Eintritt frei

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