Die Unsichtbare

  • Alexandra Exter
  • Lesedauer: 2 Min.

Alles beginnt mit einem Stoßseufzer. Vielleicht wäre Giulia gar nicht vor ihrem eigenen Geburtstagsessen weggelaufen, wenn diese alte Dame neben ihr im Bus nicht gewesen wäre. Vielleicht wäre alles überhaupt ganz anders gekommen, wäre einfach ein Abend geworden wie jeder andere, ein Essen mit Freunden, ganz nett eigentlich, wenn nur diese immer gleichen Sprüche, die immer gleichen Angewohnheiten, Streitpunkte und Lieblingssentenzen nicht wären. Aber auch die hätte Giulia vielleicht einfach mit zusammengebissenen Zähnen übergangen, sich zum Lächeln gezwungen und dran zu denken versucht, dass alle ja nur ihretwegen zusammengekommen sind, dass alle sich so viel Mühe gegeben haben, ihren runden Geburtstag gebührend zu feiern.

Stattdessen der Moment der Irritation im Bus, der vielleicht nur das i-Tüpfelchen war auf einer Reihe von Irritationen, die alle dieses Geburtstagsessen, das abendliche, wie eine Feier erscheinen lassen, deren Mittelpunkt und Anlass man eigentlich nie sein wollte. Alte Menschen sind unsichtbar für die anderen, an ihnen kann man vorbeigehen, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schulden, hatte die alte Dame gesagt, und von Giulia ein verständnisinniges Nicken erwartet, als ob die längst die selbe Erfahrung gemacht haben müsste. Und plötzlich kann Giulia ihr eigenes Spiegelbild in der nachtdunklen Seitenscheibe tatsächlich nicht mehr sehen. Alt, sie? Mit gerade erst zu feiernden Fünfzig?

»Giulias Verschwinden« entstand nach einem Drehbuch des Schweizer Roman- und Drehbuchautors Martin Suter, geschrieben für den vor gut drei Jahren verstorbenen Regisseur Daniel Schmid, dem der fertige Film von Christoph Schaub nun gewidmet ist. Ein Film über das Altern, über Ängste und die mit den Jahren steigenden Anfälligkeiten – und über den Punkt, wo nur radikales Ausscheren, der tollkühne Übermut zu einem neuen Aufbruch, dem Leben das Lebendige bewahren kann. Für Giulia (wunderbar widerständig: Corinna Harfouch) führt der Weg von Zürich nach Hamburg, mit einem Umweg über die Geburtstagsparty, wo in ihrer Abwesenheit Sunnyi Melles als frisch gelifteter Zufallsgast zynische Weisheiten verbreitet. Giulias Einsicht ist eine andere, eine lebensbejahende: unsichtbar vielleicht, aber nicht für jeden. Man muss eben hinsehen können.

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