Kaufen Sie nicht dieses Buch!

Kleines Deutsches Wörterbuch: Großer Anspruch eines kleingeratenen Quartheftes

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 4 Min.
Lesen bildet. Auf jeden Fall mehr als Nichtlesen. Lesen kann man nur, was jemand einmal aufgeschrieben hat. Und Schreiben, Literatur ist immer mit eigenem Erleben verbunden. Etwas anders liegen die Dinge bei Wörterbüchern. Da stehen, wie der Name schon sagt, Wörter im Mittelpunkt des Schreibens und Lesens und es soll Ordnung in die Welt gebracht werden. Was wäre England ohne die Encyclopedia Britannica, was wäre aus unserer Muttersprache geworden, ohne das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, was würden ganze freiheitliche Schülergenerationen ohne die gelb eingebundenen Langenscheidt-Diktionäre von anderen Sprachen wissen, und was hätten unterdrückte DDR-Schüler ohne das Russisch-Deutsche oder auch das Deutsch-Russische Wörterbuch von Bielefeld im Pflichtunterricht der Sprache der Befreier ausrichten können? Sie würden zum Beispiel das schöne Wort »Dostoprimetschatjelnosti« nicht kennen. Und genau dieses treffen wir jetzt wieder im gut siebzig Seiten dicken, oktavheftgroßen, rotgebundenden Sammelordner einer jüngst erschienenen Artikelserie des Feuilletons der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.
Anspruchsvolle Zeitung, anspruchsvoller Titel: Kleines Deutsches Wörterbuch. Herausgegeben von Florian Illies und Jürgen Bong. Illies schreibt Bestseller, wie das Erklärbuch »Generation Golf«, und Bong macht Bestseller als Chef des deutschsprachigen Programms des S. Fischer-Verlags. Anspruchsvoll die »Wirkungsabsicht« des Bändchens, nachzulesen im Nachwort: »Dieses "Kleine Deutsche Wörterbuch" versammelt Berichte und Erzählungen von Wörtern, Begriffen, Bildern, Wendungen sowie deren Schicksale und Geschichten, formuliert von deutschen Schriftstellern aus dem Osten und Westen. Es geht zumeist um Wörter, die es nicht gab im jeweils "anderen" Deutschland, die im Jahrzehnt nach der Grenzöffnung in der "vereinten" Sprache verschwanden, plötzlich oder auch ganz allmählich. Es geht aber auch um solche Wörter, die spezifisch waren, ganz eigene Bedeutungen hatten in der DDR und BRD, und - in Verwandlungen - überlebt haben«.
Selten wohl gibt es ein Buch, bei dem Anspruch und Wirklichkeit so wenig miteinander zu tun haben, wie in diesem Fall. Zwar kann man vom hochgeschätzten Wolfgang Hilbig intelligente Reflexionen über »Anfang« und »Ende« lesen, aber was sollen die in vorliegendem Band? Auch das so putzig klingende, eingangs schon bemühte Wort »Dostoprimetschatjelnosti« ist meines Wissens immer noch lebender Bestandteil der russischen Sprache und nicht mit dem in der DDR obligatorischen Unterricht im Fach Russisch abgewickelt worden. Dem zum Beispiel Monika Maron, eine der Kronzeuginnen des Buches für die Verkrumpeltheit der DDR, am »Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster«, welches dann eine Erweiterte Oberschule (EOS) wurde, hilflos ausgeliefert war. Zitat: »Während ich noch zwei Jahre miterlebte, wie meiner Schule die Reste gymnasialen Geistes ausgetrieben wurden, gewann das Wort Gymnasium für mich einen verheißungsvollen Glanz.«
Einen typischen Westbegriff bleibt uns die Auswahl des kleinen Wörterbuchs schuldig. Oder sollte das etwa das Wort Alpaka sein, mit dem das Bändchen, weil es nun mal mit A anfängt, einsteigt. Aber Alpaka sagt selbst dem 1965 in Baden-Württemberg geborenen Autor Marcel Bayer so wenig, dass ich mich frage, warum er es überhaupt, und dann noch für dieses Buch, aufgeschrieben hat. Wahrscheinlich, weil es den Herausgebern, wie im Nachwort nachzulesen, »nicht vorrangig um die "großen" politischen offiziellen Begriffe, eher um das Marginale, Abseitige, Besondere, das natürlich ernst genommen, nicht weniger direkt zum Allgemeinen führt« ging. Wie bitte? Was? Na, um Begriffe wie Sekundärrohstoffe, Singebefreiung, Solibasar, Sportförderung, Sputnik, Stützpunkt, SV-Buch, um nur einige hintereinander aufgeschriebene zu nennen. Das längst abgeschlossene Sammelgebiet DDR als Panoptikum. Es gibt nur falsche Wörter im Falschen. Noch einmal die Herausgeber: »Hier haben Sprachkünstler das Wort. In ihrer Wahrnehmung und in ihren Werken kreuzen sich das Allgemeine und das Persönliche auf besondere Weise.« Diesen Satz mag man auf das Werk von Marcel Bayer, Thomas Brussig, Jenny Erpenbeck, Wolfgang Hilbig, Georg Klein, Angelika Klüssendorf, Katja Lange-Müller, Monika Maron und Christoph Peters beziehen. Auf dieses eigentümliche Büchlein jedoch trifft das ganz und gar nicht zu. Da hilft auch nicht mehr, dass einzig Jenny Erpenbeck ahnt, was die Herausgeber (nicht) wollen: »Meine Erinnerung beruft sich auf eine Wirklichkeit, die weggekippt ist, als Erinnerung ist sie aber wirklich.« Derart ernsttümelnd soll, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Lächerlichkeit erzeugt werden, die notwendiges und befreiendes Lachen schier unmöglich macht. Legen Sie also, wenn Sie Bücher sammeln über die »damalige DDR«, wie Illies und Bong feinsinnig variieren, ihre Zehn Euro sonstwo an, aber nicht für dieses Buch. Auch, wenn Sie das Wort »Dostoprimetschatjelnosti« mittlerweile fast lieb gewonnen haben.

Kleines Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Florian Illies und Jörg Bong. S.Fischer-Verlag, 64 Seiten, gebunden, 10 EUR.
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