Auf den Spuren des Großvaters

Junge Niederländer fahren zur Göttinger Ausstellung über NS-Zwangsarbeit

  • Kai Böhne, Göttingen
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit drei Wochen wird in Göttingen eine Ausstellung mit dem Titel »Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945« gezeigt. Die Exposition verknüpft die Lebensgeschichten polnischer, niederländischer und italienischer Zwangsarbeiter.
Angehörige aus mindestens 16 Nationen leisteten während des Zweiten Weltkriegs in Südniedersachsen Zwangsarbeit.
Angehörige aus mindestens 16 Nationen leisteten während des Zweiten Weltkriegs in Südniedersachsen Zwangsarbeit.

Die Göttinger Lokhalle, in der die Ausstellung über NS-Zwangsarbeit in Niedersachsen präsentiert wird, ist ein historischer Ort. Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks mussten während des Zweiten Weltkriegs über 1000 Zwangsarbeiter harte Knochenarbeit verrichten.

Zu den ersten Besuchern der Ausstellung, die von den Geschichtswerkstätten Göttingen und Duderstadt organisiert wurde, gehörte der Niederländer Jan Janssen. Er lebt in der kleinen Ortschaft Grashoek in der niederländischen Provinz Limburg. Durch die dortige Lokalzeitung hatte er von der Göttinger Ausstellung erfahren.

Einsatz im Chemiewerk

Am Morgen des Eröffnungstages setzte sich Janssen mit seinen beiden Söhnen ins Auto und fuhr nach Göttingen. Im Handschuhfach hatten sie ein interessantes Dokument: den Zwangsarbeiter-Ausweis ihres Vaters und Großvaters Gerrit Janssen; im Februar 1945 ausgestellt vom Landrat des Kreises Duderstadt.

Gerrit und sein Bruder Andreas Janssen waren zwei von rund einhundert Männern, die aus der Provinz Limburg verschleppt wurden, um in Rhumspringe Zwangsarbeit zu verrichten. Die Enkel der Familie Janssen erhofften sich von dem Ausstellungsbesuch nähere Informationen über den Aufenthaltsort, die Lebensumstände und Arbeitsbedingungen ihres Großvaters.

Der Kulturwissenschaftler und Hauptinitiator der Ausstellung, Günther Siedbürger, konnte ihnen weiterhelfen. Laut Siedbürgers Recherchen wurde Gerrit Janssen auf der Baustelle der Otto-Schickert-Werke in Rhumspringe eingesetzt. »Das war eine Baustelle für ein Chemiewerk, in dem Treibstoff für Flugzeuge und Raketen – unter anderem die V2 – produziert werden sollte«, erklärt Siedbürger. Gerrit Janssen musste dort Leitungen verlegen und Maschinen bedienen. Vermutlich, aber das ist nicht gesichert, war er zuvor wie viele seiner Leidensgenossen auch für einige Wochen zum Anlernen im Hauptwerk in Bad Lauterberg.

Zur Produktion von Treibstoffen in Rhumspringe kam es nicht mehr. Kurz vor der Fertigstellung der Anlage trafen amerikanische Truppen bei den kasernierten Zwangsarbeitern ein. »Unmittelbar nach ihrer Befreiung demolierten Zwangsarbeiter große Teile des Werkes in einer Art Freudenfest«, sagt der Kulturwissenschaftler.

Siedbürger ist mit den Besucherzahlen insbesondere der ersten Tage zufrieden. Zur Eröffnungsveranstaltung war mit 150 Besuchern gerechnet worden. Es kamen weit mehr. »Kurzfristig haben wir noch Stühle und Sektgläser ordern müssen«, sagt Siedbürger. Die Ehrengäste, ehemalige polnische und niederländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, unternahmen eine Rundfahrt zu den Stätten ihrer Zwangsarbeit in Rhumspringe, Ebergötzen und Stockhausen/Obernjesa.

Kartenbox als Katalog

Angehörige aus mindestens 16 Nationen leisteten während des Zweiten Weltkriegs in Südniedersachsen Zwangsarbeit. Im Mai 1944 befanden sich offiziell 8091 ausländische Arbeitskräfte im Bereich des Arbeitsamtes Göttingen und 17 314 im Bereich des Arbeitsamtes Northeim. Die Göttinger Geschichtswerkstatt geht sogar von 50 000 bis 60 000 Zwangsarbeitenden im Gebiet der heutigen Landkreise Northeim und Göttingen aus. Sie wurden auch in Gaststätten und Hotels, Bäckereien, kirchlichen Einrichtungen, Kommunen und Privathaushalten eingesetzt, desgleichen in der Forst- und Landwirtschaft und in anderen Bereichen.

Als Begleitmaterial zur Ausstellung ist ein Katalog in Form einer Kartenbox mit Lebensgeschichten von Zwangsarbeitenden und Hintergrundmaterialien erschienen. Die Webseite www.zwangsarbeit-
in-niedersachsen.eu informiert über weitere Details.

Die Ausstellung im Foyer der Lokhalle Göttingen, Bahnhofsallee 1b, ist über den rückseitigen Bahnhofsausgang zu erreichen. Sie ist bis zum 14. Februar 2010 geöffnet, montags bis freitags von 11.00 bis 17.00 Uhr und sonntags von 14.00 bis 17.00 Uhr. Der Eintritt ist frei. Spenden sind erwünscht.

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