Bildungsrauschen

»nicht massgefertigt«

  • Lesedauer: 3 Min.
nichtmassgefertigt@web.de heißt die E-Mail von Sabine Kiefer, die auf ihrer Website meineweltistanders.wordpress.com anprangert, in welcher geistigen Verflachung unsere ausgrenzende Gesellschaft lebt. Wenn über weiterführende Schulen diskutiert wird, denkt kaum einer laut darüber nach, vor welchen Fragen Kinder mit »besonderen Begabungen« stehen. Im Mainstream mutieren diese zu einer undefinierbaren Masse, die angeblich in einer »Förderschule« am Besten aufgehoben sind; allein Hochbegabte kommen mit ein wenig Glück auf ein geeignetes Gymnasium. Dabei tut ein differenzierter Blick Not, um unsere menschliche »Artenvielfalt« zu würdigen.

Sabine Kiefer, die mit einem Asperger Syndrom, einer leichten Form des Autismus, lebt, nutzt das Netz, uns an »ihrer Welt« teilhaben zu lassen. Dabei zeigt sie Wege aus der Isolation: »Was ich mir merken kann, um ein Gesicht zuzuordnen, sind Details wie Leberflecken oder Narben, Brillen, Frisuren und Haarfarben. Während Narben und Leberflecken in der Regel dauerhafte Merkmale darstellen, sind Brillen, Frisuren und Haarfarben Details, die sich im Lauf der Zeit häufig ändern. So kann mir eine bekannte Person dadurch wieder fremd werden, dass sie eine neue oder plötzlich keine Brille trägt oder eine neue Frisur bzw. Haarfarbe hat. (...) Am besten kann ich mir Stimmen von Menschen einprägen und diese über einen langen Zeitraum hinweg den entsprechenden Personen zuordnen. Das setzt natürlich voraus, dass sie mich ansprechen, wenn ich ihnen begegne. Stimmen sind zuverlässig, weil sie sich – von wenigen Ausnahmen (Heiserkeit, Stimmbruch, Krankheit) abgesehen – nicht verändern.« (21. Januar) »Das Handeln meiner Mitmenschen nehme ich in seiner Komplexität nur begrenzt wahr. Oftmals erschließt sich mir der kausale Zusammenhang zwischen Grund, Ausführung und Ziel einer Handlung nicht. Dies führt nicht nur zu Missverständnissen, sondern auch dazu, dass ich nicht weiß, ob ich in einen Handlungsablauf integriert bin und wenn ja, welche Position ich darin einnehme. Hierzu benötige ich eine exakte Anweisung, die mir hilft, meine Rolle zu übernehmen und die mir zugedachten Aufgaben ausführen zu können. Mir fehlt die Fähigkeit, diese aus dem Handlungskontext heraus zu lesen und auf mich zu übertragen. (...) Denn es ist nicht die Handlung, die mir unverständlich ist, weil ich diese selbstverständlich als solche wahrnehme, sondern es ist der Kontext der Handlung, der mir unbegreiflich ist. Diese Kontextblindheit führt dazu, dass ich Situationen, Handlungsabläufe aber auch das Verhalten meiner Mitmenschen nicht richtig einordnen kann und dadurch immer wieder Missverständnisse auf beiden Seiten im Umgang miteinander entstehen. So lässt sich auch meine Schwierigkeit erklären, soziale Kontakte herzustellen und zu halten.« (15. Februar) Lena Tietgen

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