Die Lust am Spektakel

Dieter Kunzelmann – ein Protestler und Radikaler

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 4 Min.

Bereits der Titel weckt Interesse, wird doch Dieter Kunzelmann hier als Avantgardist, Protestler und Radikaler charakterisiert. Andere Zeitgenossen nennen diesen 68er-Aktivisten eher einen Linksextremisten, Gewaltapologeten oder gar: linken Antisemiten. Der in Oxford lebende und lehrende Aribert Reimann ist allen Abgründen der Biografie Kunzelmann nachgegangen, auch der schockierenden Tat am 9. November 1969.

Für den versuchten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin bei der offiziellen Gedenkveranstaltung zur »Reichskristallnacht« zeichnete eine Truppe, die sich »Schwarze Ratten/Tupamaros« nannte, verantwortlich; ein Verfassungsschutzspitzel mischte erheblich mit. Der vom »68er-Historiker« Wolfgang Kraushaar als Drahtzieher des Anschlags decouvrierte Kunzelmann steht pars pro toto für einen ins Antizionistisch-Antisemitische radikalisierten Neo-Antifaschismus, der sich laut Neuer Linker als Antiimperialismus praktisch-theoretisch zu beweisen hätte. Reimann jedoch blickt tiefer. Wenn ein jüdisches Gemeindehaus für die israelische Politik verantwortlich gemacht und Mord an den Besuchern billigend in Kauf genommen wird, ist in der Tat von einer antisemitischen Logik zu sprechen. Kunzelmann und seine terroristische Truppe wollten nach eigenem Bekunden den »hilflosen Antifaschismus« der Protestbewegung überwinden. Um Revolutionär zu werden, käme es vor allem darauf an, schrieb Kunzelmann in einem angeblich aus Amman stammenden Brief an die linksradikale Zeitschrift »agit 883«, die »Vorherrschaft des Judenkomplexes« in der Linken zu brechen. Reimann sieht in diesen »skandalösen« Bekundungen eine internationalistisch überdrehte Antwort voller militantem »Weltgefühl«. Attackiert werden sollte der Schuldabwehr-Philosemitismus der deutschen Politik, die Solidarität mit Israel bereits zur Staatsräson erklärte und dem Schicksal der Palästinenser gleichgültig gegenüber stand. Damit verlief diese Aktion im Rahmen des avantgardistischen Tabubruchs, gemischt mit internationalistisch-antiimperialistischer Parteinahme.

Reimann verfasste eine weniger um Wertung als um Hermeneutik bemühte sozial- und kulturhistorische Biografie, die nicht nur einen angemessenen Blick auf die jüngste Geschichte der 68er-Revolte wirft, sondern ein viel breiteres Verständnis der Bundesrepublik offeriert als so manche Gesinnungshistoriografie. Er stellt Kunzelmann als radikalen Subversiven vor, den man als »Übersetzer und Transformator der europäischen Protestkultur« begreifen kann. In dessen Provokationen erhelle sich die kulturelle, politische und mentale Verfasstheit der Bundesrepublik. Der 1939 in Bamberg Geborene sei so provinziell und gleichzeitig protest-globalisiert gewesen wie viele seiner Generation. Aus einem engen katholischen Umfeld stammend, bestärkt durch tolerante Eltern und angestachelt von Filmen aus Frankreich (Godard!), ging sein Sehnsuchts-Blick in die städtischen Metropolen, um dort ein klassisches Bohemienleben zu führen. Er unterhielt bereits in den 50er Jahren über die Künstlergruppe SPUR Kontakte zu den französischen Situationisten, knüpfte später Kontakte zu den Studentenführern und Neomarxisten wie Dutschke und Rabehl in Berlin, verfocht ein aktionspolitisches Programm der medienwirksamen Subversion im Kontext der Kommune 1, radikalisierte sich, kam so in das Umfeld des bewaffneten Kampfes und fand dann – wie seinerzeit Horst Mahler – den Weg zu den neo-leninistischen K-Gruppen, um schließlich in der Berliner Alternativen Liste ein auch parlamentarisch agierender subversiver Störenfried zu werden. Kunzelmann blieb unangepasst und links. Anfang der 80er Jahre war er einer der Veteranen der Berliner Hausbesetzerszene, agitierte gegen die Asylpolitik des damaligen Innensenators Lummer und engagierte sich für ein uneingeschränktes Asylrecht für Palästinenser, denn sie seien »Opfer der Opfer« und deutsche Politik müsse sich besonders für sie einsetzen. Den Berliner Senat attackierte er 1987 als »kriminelle Vereinigung« und kehrte nach der Räumung besetzter Häuser 1990 durch den rot-alternativen Senat seiner Partei demonstrativ den Rücken.

Auch in seinen letzten Aktionen setzte er auf das Medieninteresse an spektakulärer Aktion, Provokation und Tabubruch. Das kritische Konzept der Situationisten, die die kapitalistischen Gesellschaften mit ihren Konsumimperativen und medial produzierten Scheinwelten als »Gesellschaft des Spektakels« attackierten, schien er ins Affirmative zu wenden: Spaß, »Gaudi« und Spektakel sollten sich die jungen Subversiven zu eigen machen. Eine Reflexion der Gefahren einer linken Spektakelpolitik findet man bei Kunzelmann nicht, der 1998 eine fingierte Traueranzeige verfasste, um einem Haftantritt zu entgehen, worauf das Gerücht eines möglichen Freitodes die Runde machte. Im Juli 1999 tauchte der inzwischen zweifache, 60-jährige Großvater wieder auf, um seine Strafe abzusitzen.

Der Bildhauer und Lyriker Hans Arp schrieb angesichts von Kunzelmanns inszenierten Tod: »Seine Büste wird die Kamine aller wahrhaft edlen Menschen zieren«. Nun ja, demonstrative Bürgerlichkeit beweist sich heutzutage viel eher in der rituellen Verbannung von Figuren wie Kunzelmann. Doch für ihre ostentative Hässlichkeit, die immer noch die Anständigen erschreckt, sollte man sie – ganz ohne Heldenverehrung – schätzen.

Aribert Reimann: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2009. 392 S., geb., 29,90 €.

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