»Hass-Reggae«

Die Grenzen der Kunst

Als die Kulturbrauerei vor einigen Wochen den Auftritt des jamaikanischen Dancehall-Stars Sizzla absagte, war die Freude groß bei den Demonstranten auf der Schönhauser Allee. Sie hatten ihr Ziel erreicht: Der Sänger konnte nicht in Versuchung geraten, auf der Bühne wieder gegen Schwule zu hetzen oder gar dazu aufzurufen, sie umzubringen.

Aber hat Sizzla nicht bereits vor drei Jahren den Reggae Compassionate Act (RCA) unterzeichnet – eine Vereinbarung, in der er sich dazu verpflichtet, keine Schmähgesänge gegen Homosexuelle mehr anzustimmen? Das sei nur ein Lippenbekenntnis, meinten die Demonstranten. Volker Beck, Parlamentarier der Grünen im Bundestag, schätzt das ebenso ein; nachweislich habe Sizzla gegen den RCA verstoßen.

Bis zuletzt versuchten das Kesselhaus und der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) vergebens, einen Kompromiss zu finden. Sie wollten den Musiker dazu bringen, eine Kampagne gegen die grassierende Schwulenfeindlichkeit in Jamaika zu unterstützen. Sizzla lehnte ab.

Das Konzert platzte, und es blieb die Frage, wie es weitergeht. Das Kesselhaus brachte am Dienstag noch einmal alle Beteiligten des Konflikts zusammen. Natürlich kannten die Kontrahenten die Gegenseite mit ihren Argumenten, aber zum ersten Mal redeten sie miteinander

Der Tourneeveranstalter Klaus Maack von Contour Musik war noch immer sichtlich erbost über die Kampagne gegen Sizzla: »Er hatte keine Möglichkeit, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.« Sizzla sei kein Hass-Sänger, meinte auch der Musikjournalist Uli Güldner. Von 50 Alben, die er aufgenommen hat, erregten nur einige wenige Songs Ärger. Volker Beck warf ihm »Fliegenbeinezählen« vor.

Rüde Dancehall-Kultur stößt auf Unverständnis

»Was zum Teufel machen wir hier?«, warf der Musikagent Eddy Brown aus London ein. Er initiierte vor drei Jahren einen RCA, weil er gemerkt hatte, dass die rüde Dancehall-Kultur in Europa immer häufiger auf Unverständnis stieß. »Wenn an einem Abend vier Soundsystems auf der Bühne stehen, rufen alle dazu auf, sich gegenseitig umzubringen«, erklärte er. Das sei nicht wörtlich zu nehmen. Gleichwohl er einräumte, dass die Kriminalitätsrate auf Jamaika hoch sei: »Jede Woche werden dort 50 Menschen umgebracht. Auch Homosexuelle.«

Ein Zuhörer ärgerte sich über Browns lapidare Art: Die jamaikanische Schwulenorganisation J-Flag gebe auf ihrer Website keine Anschrift an, weil die Aktivisten Angst vor Übergriffen hätten. Maack dagegen fragte arrogant vom Podium herunter, ob er schon einmal in Jamaika gewesen sei.

Die Runde stritt heftig und lautstark darüber, wo die Grenze der künstlerischen Freiheit verlaufe. Alles vor den Augen der jamaikanischen Botschafterin Joy Wheeler, die einräumte, dass ihr Land unter der Kriminalität leide. Längst habe man erkannt, dass auch die Musik zur Gewalt anstachelt. Deshalb würden seit einigen Jahren die Songs überprüft. Aber es brauche Zeit, um eine Stimmung zu verändern, meinte Wheeler. »Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«

Die immer neuen Forderungen des Lesben- und Schwulenverbandes hätten Sizzla zudem vor den Kopf gestoßen, so Maak. Die Verhältnisse in Jamaika ließen das nicht zu. Darauf wollte sich Volker Beck nicht einlassen; für ihn gelten die Menschenrechte überall. Einigkeit erzielten alle Redner darüber, dass der RCA modifiziert werden müsse.

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