nd-aktuell.de / 09.03.2010 / Politik / Seite 20

Nicht Beben töten, sondern Häuser

Nach Erdstoß mit über 50 Toten fordern Experten Umdenken im türkischen Hausbau

Mahmut Bozarslan, AFP

Als Zeynep Yüksel am frühen Morgen wach wird, wackelt das ganze Haus. Die Möbel werden durcheinander geworfen, der Fernseher zerbirst. »Ich hatte große Angst«, berichtet die junge Frau einige Stunden später. Ihr Heimatdorf Okcular im Südosten der Türkei ist durch den Erdstoß der Stärke 6,0 größtenteils zerstört worden.

Yüksel gehört zu den Glücklichen, die überlebt haben: In Okcular und einigen Nachbardörfern starben durch das Beben mehr als 50 Menschen, jedes vierte Todesopfer ist ein Kind. Viele dieser Menschen könnten noch leben, wenn die Behörden und auch die Bewohner der Gegend die Erdbebengefahr ernster genommen hätten, kritisieren Experten.

»Ich bin rausgerannt, habe rechts und links geschaut, ob noch jemand im Haus ist, dann ist alles eingestürzt«, erzählt eine Überlebende in Okcular. Wie viele Dorfbewohner hat sie sich nach ihrer eigenen Rettung an der Suche nach anderen Opfern beteiligt. Mit bloßen Händen habe sie in den Trümmern des Hauses von Verwandten gegraben, sagt sie – doch sie fand nur die Leichen von zwei Kindern und deren Mutter. Am frühen Nachmittag wurden bereits die ersten Todesoper begraben.

Der Rote Halbmond hat im Hof der Dorfschule sein Hauptquartier für Hilfsleistungen eingerichtet. Für Überlebende wie Zeynep Yüksel werden Zelte aufgebaut, Decken und warme Mahlzeiten verteilt. Der türkische Staat, der bei früheren Erdbeben oft genug bei der Soforthilfe versagte, wird diesmal sofort aktiv. Selbst die Bewohner von unzerstörten Häusern suchen Schutz in den Zelten, denn Dutzende Nachbeben sorgten in Okcular für neue Panik.

Während sich die obdachlosen Erdbebenopfer in den Zelten aufwärmen, kämpfen sich im Dorf schwere Räummaschinen durch die Trümmer der Häuser. Dabei fällt auf, dass modernere Betongebäude im Ort fast unbeschadet stehengeblieben sind, während so manches traditionelle Bauernhaus nur noch ein Schutthaufen ist.

Die in dieser Gegend häufig für den Hausbau verwendeten Materialien Lehm und Naturstein seien für die vergleichsweise hohe Zahl der Todesopfer verantwortlich, sagt Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Die Lehmhäuser haben selbst einem Erdstoß wie dem vom Montag, der von Experten als schwer, aber keineswegs katastrophal eingestuft wird, nichts entgegenzusetzen.

Fachleute wie der selbst aus der Unglücksprovinz Elazig stammende Istanbuler Wissenschaftler Naci Görür fragen sich, warum Behörden und Einwohner nicht mehr getan hätten, um die Folgen möglicher Beben zu minimieren. Dass die Gegend um Elazig ganz besonders bebengefährdet ist, sei erst kürzlich bei Informationsveranstaltungen thematisiert worden, sagt Görür im Fernsehen. »Aber unsere Bevölkerung und unsere Behörden nehmen die Warnungen nicht ernst.«

Bei einem Beben der Stärke 6,0 muss in einem so an Erdbeben gewöhnten Land eigentlich kein Wohnhaus einstürzen. Das zeigt das Beispiel Japans, ein Land, in dem vergleichbare Beben kaum Schäden verursachen. Ahmet Mete Isikara, der bekannteste Erdbebenexperte der Türkei, fordert ein grundlegendes Umdenken: »Wir müssen lernen, mit Erdbeben zu leben«, sagt Isikara. Zu diesem Lernprozess gehöre eine ebenso einfache wie wichtige Lektion: »Nicht das Beben tötet – einstürzende Häuser töten.«