Leben: Erscheinen und Verschwinden

Duisburg: Skupturen von Alberto Giacometti – und die geheimnisvollen Verbindungen zwischen ihnen

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 5 Min.
»Frau auf dem Wagen«, um 1945
»Frau auf dem Wagen«, um 1945

Vor über 20 Jahren erwarb das Lehmbruck-Museum in Duisburg den bemalten Originalgips von Giacomettis lebensgroßer »Frau auf dem Wagen«, um 1945 geschaffen, ein Hauptwerk des Künstlers. Die seltsam entrückte Figur steht mit geschlossenen Beinen und eng am Körper anliegenden Armen in kultischer Strenge auf einem mit Rädern versehenen Sockelblock. Sie gleicht einer jugendlichen ägyptischen Gottheit. Das Holzwägelchen, das inzwischen durch ein neues ersetzt wurde, lässt den Eindruck von Bewegung entstehen, ebenso wie die leicht schräge Achse der Figur. Man könnte sich gut vorstellen, dass die Skulptur auf dem Wagen von Gläubigen in einer Prozession mitgezogen würde. Doch die Unbeweglichkeit der Radachsen gestattet lediglich ein Vor- und Zurückfahren der Skulptur, was für Giacometti gleichbedeutend war für die Ereignishaftigkeit und das transitorische Erscheinen und Wieder-Verschwinden einer Figur. Erstmals in der Geschichte der Bildhauerkunst thematisierte der 1901 in einem Bergbauerndorf geborene Schweizer Künstler hier die Darstellung der Distanz.

So ist die »Frau auf dem Wagen«, die hier in allen vier existierenden Fassungen – zwei weiteren Gipsfiguren und einem Bronzeguss von 1964 – erstmals gemeinsam vorgestellt wird, der Ausgangspunkt der Duisburger monografischen Ausstellung. Sie will die Verbindungen zwischen Skulptur, Malerei, Zeichnung und Druckgrafik im Werk Giacomettis, zwischen den Miniaturskulpturen und der deutlich größeren Skulptur auf dem Wagen sowie den gestreckten Frauenfiguren von 1947 wie der »Frau Leoni« (1947-57) und dem zweirädrigen großen »Wagen« (1950) darstellen, die zu den Markenzeichen des Künstlers werden sollten.

Zur Erfassung der körperlichen Gesamterscheinung seines Modells hatte Giacometti dieses immer weiter von sich weggerückt, so dass die Skulptur immer kleiner und kleiner wurde, bis zu ihrem völligen Verschwinden. Die Bildnisbüsten und Figuren, die zwischen 1935 und 1946 entstanden, sollten das Erinnerungsbild der Raumferne wiedergeben. Während die Figuren so immer kleiner gerieten, wurden die Quadersockel immer umfangreicher. Nicht der Begriff der natürlichen Lebensgröße eines Menschen war für den Künstler entscheidend, sondern die relative im Verhältnis zum gesamten Blickfeld des Augenpaares. Neben zahlreichen Arbeiten von extremer Kleinheit griff er mit der »Frau auf dem Wagen« (sie ist erst vor wenigen Jahren als englische Malerin und Künstlermuse Isabel Nicholas identifiziert worden) dann wieder das Thema der sich vorwärtsbewegenden Frauengestalt auf, die aber nicht schreitet, sondern nur vor- und zurückgefahren werden kann und die sich zudem in strikter Frontalität präsentiert. Mit Hilfe feinliniger Zeichnungen fand er schließlich zu einer entmaterialisierten und vertikalisierten Wiedergabe des vor ihm stehenden Modells. Seine Skulpturen wurden jetzt lang und dünn; ihre Oberfläche löste sich dabei in knorpelhafte Einzelteile auf, die sich im Auge des Betrachters erst mit zunehmendem Abstand zu einer erkennbaren Gestalt verdichten.

Im Zyklus von Triumph und Tod hat er dann das Motiv der »Frau auf dem Wagen« durch Hinzufügung von Rädern zum großen »Wagen« weiterentwickelt, der an antike Kampfwagen, kultische Sonnenwagen oder Zeremonialobjekte keltischer Herkunft erinnert. Statt eines Kriegers steht hier eine Frau, die auch Isabel Nicholas darstellt, erhöht auf dem Wagen und verleiht der Skulptur magischen Charakter.

Auch in der Malerei tritt die Figur aus einem bestimmbaren Umraum hinaus, der Körper wird nebelhaft, die Gesichter erscheinen wie magische Phänomene. Giacomettis Gemälde wirken wie in Öl auf Leinwand aufgetragene Zeichnungen. Später sollte sich für ihn die Realität eines Menschen vor allem im Blick konzentrieren. Um die »Totalität des Lebens« einzufangen, genügten ihm wenige Figurentypen: Seine stehenden Frauen, Sinnbild lebensbewahrender Beständigkeit, zwingen den Betrachter, ihrem geradeaus gerichteten, stummen Blick standzuhalten, während die rastlos schreitenden männlichen Figuren den Betrachter gänzlich zu ignorieren scheinen. Auch wenn er mehrere Figuren – oft miniaturhaft klein – zu Gruppen zusammenfügte, stellt sich keine Beziehung zwischen ihnen ein. Während »Platz« (1950) noch filigrane Figuren zu einer »Vision« zusammenführte, formte er für die Chase Manhattan Plaza in New York weit überlebensgroße, freistehende Figuren. Eine »Große Frau« von fast acht Metern Höhe zu schaffen, verhinderte 1966 der Tod.

Diesen Figurentypen gesellt sich der Kopf als Sinnbild des Zentrums geistiger Lebenskraft hinzu. In den späten Porträtbüsten seiner Frau Annette oder seines Bruders Diego ging es nicht mehr um die Darstellung eines vorübergehenden »Augen-Blickes« verschiedener Individuen, sondern um die Sichtbarmachung des Wesens der Gattung Mensch. Die Formulierung eines Zeitempfindens ist kaum je treffender zum Ausdruck gekommen als in seinen Figuren und Köpfen. In den letzten Lebensjahren sagte Giacometti viele Ausstellungen ab, weil er wie besessen an Büsten und Bildnissen arbeitete, die das Einmalig-Individuelle des Hier und Jetzt mit der zeitlosen Allgemeinbedeutung, wie sie etwa antike Bildwerke haben, verbinden sollten.

In Zwiesprache mit den Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen und historischen Fotografien kann der Besucher der Ausstellung eine spannende Entdeckungsreise antreten. Kunsthistorische Forschung ist hier wunderbar in sinnlich konkrete Anschauung umgesetzt worden. Zudem vermittelt eine einleitende Präsentation des zeitgenössischen, konsequent figürlich arbeitenden Bildhauers Stephan Balkenhol überraschende Vergleiche mit dem Werk von Giacometti.

Alberto Giacometti: Die Frau auf dem Wagen. Triumph und Tod. Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum – Zentrum Internationale Skulptur, Duisburg. Kooperation mit der Fondation Alberto und Annette Giacometti, Paris. Bis 18. April. Katalog.

Giacomettis Bronzefigur eines schreitenden Mannes, »L'Homme qui marche I«, erzielte kürzlich bei Sotheby's in London 65 Millionen Pfund (rund 74 Millionen Euro) und hat den bisherigen Auktionsrekord für ein Kunstwerk gebrochen. Der »Schreitende Mann« (1961 geschaffen) zählt zu den wichtigsten Werken des Künstlers. Es war seit 1980 im Besitz der Dresdner Bank, stand in der Konferenzetage des Frankfurter Dresdner-Bank-Hochhauses und ging nach der Übernahme durch die Commerzbank im vergangenen Jahr in deren Sammlung über.

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