Kammerspiele

Warum der Berliner Sportverein »Karower Dachse« so erfolgreich ist

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Kirsten Ulrich, Birgit Drathschmidt, Bettina Wilhelmy und Burkhard Galke (v.l.n.r.)
Kirsten Ulrich, Birgit Drathschmidt, Bettina Wilhelmy und Burkhard Galke (v.l.n.r.)

Dachse leben in Familienverbänden. Ein Dachsbau kann ziemlich alt werden – Generation um Generation fügt ihm neue Kammern hinzu, erweitert ihn zu beträchtlicher Größe. So gesehen, scheint der Berliner Sportverein »Karower Dachse« seinen Namen mit Bedacht gewählt zu haben, eine Metapher sozusagen: Gegründet von nur zehn Familien, zählt er heute, elf Jahre später, 1400 Mitglieder.

In Wirklichkeit ist es so gewesen: Auf der Gründungsversammlung wurde ein Vereinsname gesucht. Ein Tier sollte darin vorkommen, denn Sportvereine lieben es, sich möglichst animalisch zu geben – sie nennen sich Adler, Falken, Löwen, Tiger, Haie, Eisbären. Kirsten Ulrich hatte früher bei den »Reinickendorfer Füchsen« mitgemacht. Füchse? Dachse! So sollte es sein. Manchmal passt der Name später.

In diesem Februar nahm Kirsten Ulrich aus den Händen Angela Merkels für die »Karower Dachse« den »Stern des Sports« in Gold entgegen. Die »Sterne des Sports« sind die höchsten Auszeichnungen, die der Deutsche Olympische Sportbund zu vergeben hat. Die Kanzlerin erkundigte sich, wie der Verein es angestellt habe, so viele Mitglieder zu gewinnen. »Unser Stadtteil«, entgegnete Kirsten Ulrich, »hat eben viele Einwohner. Alt- und Neu-Karow zusammengerechnet, sind es etwa 20 000.« Darauf die Kanzlerin, lächelnd: »Aha.« Was Kanzlerinnen so sagen müssen. Natürlich hätte auch Kirsten Ulrich etwas mehr zu sagen gehabt. Zum Beispiel, dass sich die »Karower Dachse« deshalb so großen Zulaufs erfreuen, weil es Spaß macht, bei ihnen Sport zu treiben. Weil vom Vorstand bis zu den Übungsleitern alle mit Leidenschaft dabei sind. Doch mit den Worten ist es eine Sache, wenn einem die Kanzlerin die Hand drückt.

Jetzt, ein paar Wochen später, im Kreis des Vereinsvorstands, weiß Kirsten Ulrich ganz genau, was sie hätte sagen können. Auch Bettina Wilhelmy und Burkhard Galke fallen viele Gründe ein, die den Verein attraktiv machen:

»Bei uns geht es um Breitensport: Gesundheit, Geselligkeit.«

»Wir bieten allen etwas an, vom drei Monate alten Baby bis zum 90-jährigen Rentner.«

»48 Sport- und zwölf Musikkurse in der vereinseigenen Musikschule: musikalische Früherziehung, Turnen, Tanzen, Zirkusschule, Volleyball, Basketball, Aerobic, Laufen, Hockey, Rückenschule.«

»Unsere Mitgliedsbeiträge sind günstig. Eine Familie, egal mit wie vielen Kindern, zahlt im Monat 18 Euro, eine Einzelperson elf. Acht Euro beträgt der ermäßigte Satz: für Kinder, Studenten, Arbeitslose. Das kann jeder aufbringen. Dafür stehen ihm sieben Tage pro Woche all unsere Angebote offen.«

»Hier entstehen Freundschaften.«

Kirsten Ulrich, Bettina Wilhelmy und Burkhard Galke bilden den Vorstand der »Karower Dachse«. Manchmal kracht es zwischen ihnen, zum Beispiel, wenn es darum geht, wie die Mittel verteilt werden: Das ist gut so. Wenn sie ins Schwärmen kommen, sind sie sich einig: Das ist beinahe ideal.

Freitagnachmittag, fünfzehn Uhr. Eltern-Kind-Turnen. Der Frühling lässt noch auf sich warten. Die Turnhalle der Grundschule zum Hohen Feld hat sich in einen riesigen Indoor-Spielplatz verwandelt: Rutschen, Röhren, Mattengebirge. Mütter und ein paar Väter tollen mit ihren ein- bis zwei Jahre alten Babies. Der Kurs ist gut besucht. In Berlin-Karow werden viele Babies geboren.

David, achtzehn Monate alt, verschnauft mit seiner Mutter Sabine. Die Biologin empfindet es als angenehm, hier eine Stunde mit ihrem Sohn verbringen zu können: raus aus den eigenen vier Wänden, und David ist beschäftigt. Jetzt bilden alle mit Übungsleiterin Grit Eibenstein einen Kreis. Auf der grünen Wiese, steht ein Karus- sell ... Musik und Bewegung. Ein Quietschvergnügen.

Auf der Balustrade trainiert Kirsten Ulrich ihre Lauf-Dachse. Die Schlechtwetter-Lösung. Wie alle Trainer und Helfer trägt die 46-Jährige mit dem frechen Kurzhaarschnitt ein Dachs-T-Shirt: Stallbewusstsein. Kirsten Ulrich ist nach der Wende aus dem Westen Berlins in den Osten gezogen. Nicht wenige »Wessis« entdeckten damals Karow für sich: noch Stadtrand, doch nicht weit weg vom Zentrum. In zwanzig Minuten ist man mit der S-Bahn in der Friedrichstraße, in fünf Minuten in der freien Natur. Die »freie Natur« sind das Karower Naturschutzgebiet und der Bucher Forst. Wiesen, Teiche, Wälder. Der Stadtteil wuchs und wuchs. Nur Gelegenheiten, sich kennenzulernen, freie Zeit miteinander zu verbringen, gab es kaum. »Wir haben sie uns geschaffen«, sagt Kirsten Ulrich.

Sie war nicht immer laufbegeistert. Mit zwölf trug sie Konfektionsgröße 46: Da macht man keine gute Figur, da hasst man den Sportlehrer. Heute ist die Verwaltungsangestellte gertenschlank. Nach dem ersten Kind hatte sie angefangen, »was zu machen«. Wer sich von klein auf gern bewegt, glaubt sie, hat es leichter. Bettina Wilhelmy kann das bestätigen. Sie selbst hat von Kind an gern Sport getrieben, später Sport studiert. Auch Burkhard Galke ist mit Sport aufgewachsen: Er stammt aus dem brandenburgischen Kränzlin, »und auf dem Dorf wird Fußball gespielt. Vier Balken, ein Tor, da bolzt man rein. Das bleibt hängen.« Er ist überzeugt davon, dass sich die Babies, die heute hier turnen, ihr Leben lang gern bewegen werden. »Die bleiben uns erhalten«, sagt er. Der Bau wächst. Kammer für Kammer.

Im hinteren Teil der Halle üben nun die Cheerlaeder, im vorderen Drei- bis Fünfjährige mit ihren Mamas und Papas. Die Gruppe wird von Birgit Drathschmidt geleitet. Auch sie gehört zum »harten Kern«: Als Geschäftsführerin hat die gelernte Kauffrau und Mutter von sechs Kindern bei den »Dachsen« die einzige Vollzeitstelle.

»Schneemann und Schneeflocke« lautet das Thema des kleinen Bewegungsspiels. Begleitet wird es von einem Musikstück, das von behäbig zu flockenleicht wechselt. Behäbig: Die Schneemänner wiegen sich mächtig gewaltig in den Reifen, die ihre mächtig gewaltigen Taillen markieren. Flockig: Die Schneeflocken wirbeln auf, schwingen dabei weiße Bänder. Bald schon werden die Stelle der Schneemänner Frühlingsblumen einnehmen und die der Schneeflocken Schmetterlinge.

Birgit Drathschmidts Ehemann war aus Karlsruhe nach Karow gezogen. In Karlsruhe hatte es Heimatverein, Karneval- und Sportverein gegeben, in Karow nichts. Drathschmidts gehören zu den Gründungsmitglieder der »Dachse«. Frank ist gewählter Schatzmeister, Abteilungsleiter und Schiedsrichter Basketball, außerdem Trainer der männlichen Basketballer U 16. Mit den Trainern steht und fällt das Angebot. Die Vorstandsmitglieder tragen dabei eine Menge weg. So betreut Kirsten Ulrich neben den Laufgruppen auch die Gruppen Walking/Nordic Walking, Aerobic und Kick & Punch, Bettina Wilhelmy kümmert sich um die Kurse Wirbelsäulengymnastik für Erwachsene und Senioren, die Frauenfitness und das Sportartenkarussel, Burkhard Galke trainiert die Volleyballer. »Einen Verein zu gründen, ist nicht so schwer«, wird Birgit Drathschmidt später sagen, »schwerer ist es, ihn am Leben zu halten. Man muss schon ein bisschen verrückt sein.«

Siebzehn Uhr. In Windeseile haben Hallenwart Peter Herbaum und seine Helfer Geräte ab- und aufgebaut. Mit Hilfe von Plastikwänden, die von der Decke gelassen werden, ist die Halle nun dreigeteilt. Vorn turnt die nächste Kinderturngruppe, hinten wird Hockey gespielt, in der Mitte eröffnet Frank Schweizer seine Ballschule, mit der Pfeife: »Bei zwanzig Kindern kommen Sie ohne Pfeife nicht aus.« In Schweizers Ballschule sollen Fünf- bis Siebenjährige lernen, ihre Bewegungen zu koordinieren. Zu den »Dachsen« ist Frank Schweizer durch seine Kinder gekommen. Als ein Trainer gesucht wurde, sagte der kaufmännische Angestellte nicht nein. Schweizer ist nicht der Einzige, der vom Mitglied zum Macher wurde. Kammer für Kammer.

Peter Herbaum, der Hallenwart, schaut dem Treiben zu. Es tut ihm gut mitanzusehen, mit welcher Freude alle dabei sind. Die regulären Schulsportstunden, die er vormittags in »seiner« Halle erlebt, sind oft weniger inspiriert. Da schaffen Drittklässler keine Rolle vorwärts! Dabei müssten sie das schon können. Peter Herbaum weiß das, weil er Lehrer für Sport und Kunst ist. Vielmehr war er es. Fachlehrer wie er bekommen kaum noch Festanstellungen, bestenfalls mietet man sie stundenweise. Wenn sie wie Peter Herbaum 54 sind, nicht mal das. In der Arbeitslosenstatistik taucht er momentan nur deshalb nicht auf, weil er eine über zwei Jahre geförderte Stelle beim Bezirkssportbund Pankow hat, der ihn an die »Dachse« auslieh. Die zwei Jahre laufen bald ab. Der Sportbund und Birgit Drathschmidt machen Kopfstände, damit seine Stelle verlängert wird. Herbaum würde gern bleiben. Es geht ihm gut, seit er hier ist.

Auch dienstags gibt Peter Herbaum sein Bestes. Obwohl dienstags alles anders ist: Für zwei Stunden am Nachmittag treten die »Dachse« einen Teil der Halle an »outreach« ab. »outreach« ist ein Verein der mobilen Jugendarbeit: Streetwork, Arbeit mit Cliquen und Gangs. Das Outreach-Team hat die Jugendlichen, die es dienstags hierher einlädt, auf der Straße aufgelesen. Berlin-Karow ist kein weltferner Raum: Kaputte Familien, Schulschwänzer, Gewalttäter gibt es auch hier. Zwei Stunden Sport geben ihrem Tag Struktur. Sie denken, sie schaffen den Barren nicht, dann schaffen sie ihn doch. Darauf können sie zurückblicken. Besser wäre es natürlich, wenn sie einen Ausblick hätten.

In ihrem unmittelbaren Umfeld versuchen die »Dachse«, solche Ausblicke zu schaffen. Birgit Drathschmidt nennt das »soziale Verantwortung tragen«. Peter Herbaum ist nicht der Einzige, der bei den »Dachsen« überwintert. Zur Zeit bildet der Verein zwei Jugendliche, die bei ihm eine vom Jobcenter geförderte Sporthelfer-Stelle haben, zu Jugendübungsleitern aus und hilft ihnen, Lehrstellen zu finden – in drei Fällen hat das schon geklappt. Außerdem sorgt er für die Ausbildung zweier alleinerziehender Mütter – die eine wird Vereinsmanagerin, die andere Ernährungsberaterin. Kammer für Kammer.

Den »Stern des Sports« haben die »Dachse« für ihre Aktion »Karow aktiv« erhalten. Karow läuft! Angefangen hat es mit einem Marathon durchs Naturschutzgebiet, ein Volkslauf. Inzwischen ist daraus die zweitgrößte Gesundheitsmesse Berlins geworden, ein regionaler Zusammenschluss verschiedener Vereine und Organisationen, die gesundes Leben fördern. Hier spielt Thomas Kaupel eine Rolle. Thomas Kaupel ist Kirsten Ulrichs Trainerpartner bei den Lauftreffs. 2001 kam er aus Nordrhein-Westfalen nach Karow. Ein Ost-West-Problem gebe es bei den »Dachsen« nicht. »Wir denken nicht in solchen Begriffen.« Burkhard Galke, der Volleyballtrainer, schränkt ein: »Spielen unsere Kinder in Reinickendorf, werden sie schon mal angemeckert: Ihr kommt doch aus dem Osten. Dabei sind einige von ihnen Wessis .«

Die »Sterne des Sports« werden nicht einfach so verliehen, man muss sich bewerben. Gold bedeutet 5000 Euro. Die können die »Dachse« gut gebrauchen. Während andere für Olympische Spiele trainieren, setzen sie auf Kammerspiele. Da hat man nicht so viel Sponsoren.

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