Süchtig im Altersheim

Das »Jahrbuch Sucht« offenbart die Folgen des legalen Drogenkonsums in Deutschland

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Alkohol, Tabletten und Tabak: Das am Mittwoch veröffentlichte »Jahrbuch Sucht 2010« belegt, dass die gefährlichsten Drogen in Deutschland meist frei verkäuflich sind.

Sind die Deutschen ein Volk von Süchtigen? Ein Blick in das von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) herausgegebene »Jahrbuch Sucht 2010« lässt das Schlimmste befürchten. Beinahe 10 Millionen Bundesbürger trinken demnach Alkohol in »gesundheitlich riskanter Weise« und 1,3 Millionen von ihnen gelten als alkoholabhängig, wie DHS-Geschäftsführer Raphael Gaßmann auf einer Pressekonferenz in Berlin betonte. Jährlich sterben etwa 73 000 Menschen an den Folgen ihres exzessiven Alkoholkonsums. Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit einem Jahresverbrauch von 12 Litern reinen Alkohols bei den über 15-Jährigen weltweit an fünfter Stelle. Erfreulich sei nur, dass der Verbrauch hierzulande seit Jahren leicht zurückgehe, so Gaßmann.

Um diese Entwicklung aufzuhalten, investierten Brauereikonzerne und Brennereien im Jahre 2008 etwa 1,1 Milliarden Euro in Alkoholwerbung. Weitaus mehr zahlt jedoch der Steuerzahler für die Folgen der Sauferei. Die Hauptstelle für Suchtfragen rechnet mit volkswirtschaftlichen Kosten von 24,4 Milliarden Euro pro Jahr infolge alkoholbezogener Krankheiten. Die Steuern auf Alkohol decken diese Verluste bei weitem nicht: Mickrige 3,5 Milliarden Euro kassierte der Fiskus im Jahre 2008 auf Bier und Schnaps. Dabei besteht hier noch Spielraum. Deutschland liege mit seinen Steuersätzen »eher im europäischen Unterfeld«, unterstrich DHS-Geschäftsführer Gaßmann.

Killerdroge Nummer eins bleibt jedoch der Tabak. Nach vorsichtigen Schätzungen der Hauptstelle für Suchtfragen »muss von jährlich 110 000 bis 140 000 tabakbedingten Todesfällen ausgegangen werden«. Allerdings habe sich die »gesellschaftliche Einstellung zum Rauchen verändert«, konstatierte Gaßmann. Weitreichende Rauch- und Werbeverbote, deutliche Warnhinweise auf Verpackungen sowie drei kräftige Steuererhöhungen hätten demnach einen leichten Rückgang beim Tabakverbrauch bewirkt. Doch nach wie vor greifen mehr als 16 Millionen Bundesbürger zum Glimmstängel.

Während die Gefahren des Rauchens allgemein bekannt sind, wird der weit verbreitete Medikamentenmissbrauch kaum wahrgenommen. Und dass, obwohl 1,4 Millionen Bundesbürger als tablettenabhängig gelten. Offenbar gelingt es den Pharmakonzernen, das Thema aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Die Hauptstelle für Suchtfragen schätzt, dass fünf Prozent aller verordneten Arzneimittel »ein eigenes Suchtpotenzial« besitzen. Für die Pharmabranche ein Milliarden-Geschäft: Mittlerweile wird ein Drittel dieser Medikamente zur »Suchterhaltung und Vermeidung von Entzugserscheinungen« verordnet. Insbesondere Benzodiazepinderivate – also Schlaf- und Beruhigungsmittel – bergen das größte Suchtpotenzial.

Dabei lassen sich viele ältere Menschen unnötigerweise Schlafmittel verschreiben, wie DHS-Projektmanager Armin Koeppe unterstrich. Denn die im Alter auftretenden Schlafstörungen hätten eine ganz natürliche Ursache: Der Körper benötige einfach weniger Schlaf. Koeppe vermutet, dass 25 Prozent der Altenheimbewohner bereits süchtig sind. Der weit verbreitete Tablettenmissbrauch hat fatale Folgen: Die umnebelten Alten stürzen häufig: Bis zu eine Million mal pro Jahr – so schätzt Koeppe – kommt es in deutschen Alters- und Pflegeheimen zu schweren Stürzen. Etwa 120 000 Oberschenkelhalsbrüche bleiben dabei zurück.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal