nd-aktuell.de / 22.04.2010 / Kultur / Seite 10

Eine Schelle am Hals des Wolfes

Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir - von Miraz Bezar

Alexandra Exter
Dieser Film machte in der Türkei Geschichte. Miraz Bezar, sein kurdischstämmiger Regisseur, wurde in Ankara geboren. Er wuchs in Bremen auf und studierte an der Berliner Filmhochschule dffb. Seit 2005 lebt Bezar wieder in der Türkei. »Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir«, mit Laiendarstellern auf Türkisch und Kurdisch gedreht, ist sein Kino-Debüt nach mehreren Kurzfilmen. Und in Zusammenarbeit mit der Hamburger Produktionsfirma von Fatih Akin entstanden, der allerdings erst dazustieß, als der Regisseur schon das gesamte Familienvermögen in seinen Film gesteckt hatte. Der spielt in Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei, seit der Verfolgung der neunziger Jahre ein Zufluchtsort ländlicher Kurden.

Die Eltern eines Geschwisterpaares werden während der Heimfahrt von einer Hochzeit von türkischen Paramilitärs kaltblütig – und vor den Augen ihrer Kinder – ermordet. Die traumatisierten Kinder kommen bei einer Tante unter. Bis die dann auch verschwindet: Wer als Kurde in der Türkei politisch aktiv ist, musste während der Zeiten, die der Regisseur den Bürgerkrieg nennt, stets mit dem Schlimmsten rechnen. Die Kinder bleiben sich selbst überlassen. Erst in der Wohnung der Tante, die sich um eine gemeinsame Ausreise nach Schweden bemühte, bevor sie verschleppt wurde. Dann, als ihnen das Geld für Strom und Miete ausgeht, auf der Straße. Ihre neugeborene Schwester ist da bereits tot, weil das Geld nicht für Medikamente reichte – auch das eine Geschichte, die das wahre Leben schrieb.

Heute haben sich die Verhältnisse in der Türkei beruhigt. Offiziell aufgearbeitet sind sie bisher nicht. Weshalb der Regisseur seine Geschichte auch nicht gut erkennbar in der nahen Vergangenheit ansiedelte, sondern den zeitlichen Rahmen bewusst offen ließ. Denn ohne öffentlichen Aufarbeitungsprozess köchelt die Gewalt im Verborgenen weiter und kann jederzeit erneut hervorbrechen, so seine Befürchtung.

Ihre Nächte verbringen Bruder und Schwester nun in der Ruine einer zerstörten armenischen Kirche. Auf der Straße finden sie neue Freunde, neue Mentoren. Während die Schwester Reklamezettel verteilt, verkauft der Bruder Hehlerware, raubt mit anderen, älteren Straßenkindern mit mutmaßlich ähnlichen persönlichen Geschichten Kunden an Geldautomaten aus und lässt seinen hilflosen Zorn an harmlosen Tieren aus. Bis die beiden eines Tages zufällig auf den Mörder ihres Vaters treffen, der nachts foltert, wenn er nicht gerade die Prostituierte aufsucht, deren Kontaktadresse die Kinder für ein Trinkgeld hinter Scheibenwischer schieben, und tagsüber den treusorgenden Familienvater für seine türkischsprachige Familie spielt. Sie könnten ihn töten, um ihre Eltern zu rächen.

Stattdessen gehen sie den gewaltfreien Weg, suchen die Öffentlichkeit, verteilen hausgemachte Fahndungszettel an seine Nachbarn. Hängen dem bösen Wolf die metaphorische Schelle um, der ihn schon von weitem als Raubtier ausweist, wie in dem Märchen, das ihre Mutter ihnen als Gute-Nacht-Geschichte auf Band sprach. Am Ende wird der heimtückische Mörder vom Minarett der Moschee noch namentlich ausgerufen – eine Mob-Justiz der öffentlichen Meinung auch diese, aber jedenfalls physisch gewaltfrei. Der Redaktion des Vaters geht ein Exemplar des Steckbriefs zu, dazu die Tatwaffe. Was mit Bruder und Schwester wird, bleibt offen. Dass die Männer, die da telefonisch Matratzen für ein gutes Dutzend Kinder bestellten, ein Waisenhaus leiten, scheint eher unwahrscheinlich. Am Ende des Films fahren die beiden im Kofferraum des Autos dieser Männer einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen. Und am Straßenrand spielen andere Jungen mit Pistolen. Keine dokumentarische Szene hoffentlich.

»Min Dît« ist ein Film der Zeugenschaft, frei nach der realen Lebensgeschichte einer Zufallsbekanntschaft aus Diyarbakir, verwoben mit anderen Schicksalen, von denen der Regisseur und seine Ko-Autorin sich vor Ort erzählen ließen. Wo Bezar sich künstlerische Freiheiten erlaubte, tat er das nicht im Sinne einer dramatischen Zuspitzung, sondern um das reale Geschehen erträglicher zu machen. Was vielleicht erklärt, warum man den Kindern ihre schrittweise Verwahrlosung so wenig ansieht. Möglicherweise hätte es dem Film hier besser getan, wäre nicht ganz so viel Rücksicht auf die Sensibilitäten eines westlichen Publikums genommen worden.

Aber es ist der politisch brisante Inhalt, nicht die ästhetische Perfektion, die den mit schmalsten Mitteln und ohne jede öffentliche Förderung produzierten Film zum Meilenstein machen. Auf gleich zwei türkischen Filmfesten wurde er gezeigt, im Oktober 2009 in Antalya als einer von zwei Beiträgen in einer Sprache, deren öffentlicher Gebrauch noch vor wenigen Jahren strafbar war. Dort wurde er mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Und jüngst in Istanbul, wo er gleich mehrere Preise gewann. Regisseur Bezar arbeitet dem Vernehmen nach mittlerweile an seiner ersten Theaterregie. Mit einem Stück über den türkischen Völkermord an den Armeniern. Mancheiner hat einfach Mut für drei.